Theorie und Praxis

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von ppue, 21.Januar.2018.

  1. ppue

    ppue Experte

    und elitär.

    Ich bin ganz froh, dass ich die Sinfonien heute auf Knopfdruck hören kann. Das gleicht die Schere zwischen arm und reich zumindest im musikalischen Kontext aus.

    Das war in den 60/70er Jahren in meinem Musikunterricht nicht anders.
     
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  2. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Theoretisch. Ich bin ein Kind "kleiner Leute" mit Capri Fischern und Weißen Rosen aus Athen. Der Musikunterricht am Gymi war eine Katastrophe, die Bürgerkinder bekamen teuren Instrumentaluntericht, während ich und meine Freunde als Autodidakten der "Negermusik" fröhnten und den Nimbus der Aussätzigen genossen. Die einen sangen laut Get Off Of My Cloud und ich und wenige andere hörten begeistert "Salt Peanuts" - hörten, denn spielen konnten wir höchstens Ice Cream und Saints. Ich höre heute mit 70 noch Salt Peanuts und nie Sinfonien.
     
  3. ppue

    ppue Experte

    Aber du könntest wenn du wölltest. Das halte ich schon für entscheidend.
     
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  4. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Natürlich ist das ein unglaublicher Reichtum, heute alles auf "Knopfdruck" hören zu können, aber hat das wirklich die Wertschätzung, die Achtung und den bewussten Umgang mit Musik gefördert? Einerseits ja, andererseits aber auch nein: auf der anderen Seite steht die Oberflächlichkeit.
    Zum Musikunterricht: heute kam mir im Dorf jemand auf dem Rad entgegen, wir hatten beide ein Aha-Erlebnis, er drehte um, und es war ein ehemaliger Schüler, der vor 30 Jahren in meinem Musikunterricht war. Er sagte nicht: "Mensch, damals mit der Obertonreihe, das war wirklich interessant" sondern "Mensch, ich erinnere mich noch ganz genau, wie wir "Annie's Song" von John Denver gesungen haben". Der Schlüssel ist immer das musikalische Tun, egal auf welchem Level. Die Theorie ernährt sich nur aus der Praxis bzw. wird durch sie gestützt.
    In meinen letzten Berufsjahren schaute ich manchmal im Winter in der ersten Stunde um 7.55 Uhr auf 30 müde und leere Gesichter im fahlen Licht des kargen Raumes und der Dunkelheit draußen vor den Fenstern. Dann ließ ich meine Vorbereitung sausen und versuchte lieber, die für Theorie (und leider auch Praxis) oft nicht zugängliche Gruppe sanft zu wecken, etwa mit Palestrina, Bach, Reich, Barber oder aber auch mit Pat Metheny (Are You Going With Me, welch programmatischer Titel....), Miles Davis (In A Silent Way), Jeff Buckley (Cohen's "Hallelujah"). Manchmal klappte es, manchmal nicht.
    Ein witziges Erlebnis hatte ich mal, als ich "Wonderwall" von Oasis im Unterricht besprach, sang und musizierte (relativ einfache und ostinate Basslinie). Danach legte ich "Strawberry Fields" von den Beatles auf und sagte, das sei die neue Nummer der Brüder Gallagher. Wurde sofort genommen, Mellotron und Beatlesque Vocals sei Dank.
     
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 29.Januar.2018
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  5. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Solange du die Menge an "Ice Cream" und "Peanuts" nicht vor dem Fernseher in dich reinschaufelst und dir die Arteriosklerose in die Gefäße lädst, ist doch alles gut. Es geht wirklich nicht um Musikgeschmack, und wie @ppue es mit anderen Worten beschreibst: in jeder Therapie ist es ein Grundansatz, dass man seiner Vergangenheit als Erwachsener abschwören und ihr "Adieu" sagen darf: dazu gehört elterlicher Einfluss und ausdrücklich auch die negativen Lehrer, denen man ausgesetzt war. Ich hoffe nur, dass du so wie ich in deiner Kindheit nicht nur grässliche Lehrer hattest (ich wurde im Gym noch geschlagen), sondern auch den einen oder anderen guten oder sogar gütigen Lehrer (wie ich). Mein Musiklehrer gehörte leider auch nicht dazu, aber Gott sei Dank hatte mein gütiger Klavierlehrer mit 9 die Liebe für die Musik schon geweckt. Im Gym wäre das nicht passiert.
     
  6. Gerrit

    Gerrit Guest

    ... elitär: das kann man so generell gar nicht sagen. Das kommt ganz darauf an, in welchem Kontext die Musik aufgeführt wurde.
     
  7. ppue

    ppue Experte

    Nämlich?
     
  8. Gerrit

    Gerrit Guest

    ... eine Kantate am Sonntag in der Kirche oder ein Oratorium sprach ein anderes Publikum an als eine Komposition, die lediglich im höfischen Kontext seine Aufführung fand... in diesem Sinne. Man muss schon genauer forschen, welches Werk wann und wo zu welchem Anlass wem zugänglich war. Man muss da etwas vorsichtig mit seinen Urteilen sein. Das betrifft übrigens nicht nur Aussagen bezüglich der Rezeption von Musik, sondern auch etwa der bildenden Kunst. Man muss auch berücksichtigen, welche Verbreitung die Werke etwa durch Druck und dergleichen fand. Aber das ist ein weites Feld und sprengt den Rahmen hier...
     
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  9. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Genauso. Kein Klassentreffen mehr, auch nicht das 50ste, nach dem Abi nie wieder die Schule gesehen. In meinen restlichen Jahren schimpfe ich jetzt noch die letzten Erinnerungen weg :-D
     
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  10. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Wenn's Schimpfen Freude bringt ist's o.k., ansonsten lieber Sax spielen und das Leben genießen. Ich weiß, wovon ich rede, mein Bruder holt mit seinem zwanghaften Schimpfen die Vergangenheit immer wieder in sein Leben zurück, anstatt sie loszulassen.
    Sax zu spielen passt auch besser zu diesem Thread ("Praxis").
     
  11. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Ein Kollege hat mir erzählt, was er zu hören bekam, als er fragte, wie die Note heißt, wenn ein b vor dem a steht.
    Antwort: "Ba".
     
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  12. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Sehr kreativ. Wenn der "Ba"nause jetzt noch den Schlüsseldienst ruft, um den vermuckten Violinschlüssel gegen den Ba-Schlüssel zu tauschen.....
     
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  13. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Ich finde, die Antwort hat was. Ich musste jedenfalls herzlich lachen.:)
     
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  14. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Das liegt doch an jedem selbst. Warum müssen Dinge erst knapp werden, damit man mekt, wie wunderbar sie sind? Beisst sich mit dem Konzept 'homo sapiens'.

    Wir haben Essen im Überfluss. Ist aber meine Wahl, ob eich es genieße, schätze oder einfach was gegen Hunger beim nächsten Systemgastroneomen reinschraube.
    Literatur, Musik, dasselbe.

    Ich bin dafür selbst verantwortlich.

    Wie schon der gute, alte Kant sagte:
    "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
    Klingt bitter, aber da ist was dran.

    Es gibt genügend Bereiche, in denen ich unmündig bin. Aber ich kann wählen: Was ist mir wichtig?

    Liebe Grüße
    Roland
     
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  15. ppue

    ppue Experte

    Ich glaube nicht, dass "der kleine Mann" damals oft die Möglichkeit hatte, Oratorien zu hören. Die Schere damals war eine andere aber dennoch eine Große. Wenn man Glück hatte, war die Familie der Bildung gegenüber aufgeschlossen und ermöglichte den Kinder ein Studium. Und solche Sätze

    kommen dann dabei heraus. Ja, für mich klingen die fast schon überheblich, denn ich halte die damalige wie auch die heutige Schere nicht für selbstverschuldet. In erster Linie kommt es darauf immer noch darauf an, in welche Kreise man hinein geboren wird.

    Gerade deshalb ist der Zugang zu Kultur und Bildung mittels des Internets, den in unseren Breitengraden wohl fast jeder hat, ein hohes Gut.

    Mag sein, dass die Masse der angebotenen Musik sie selbst entwertet. Das liegt in der Natur der Dinge und nicht an der Mündigkeit der Menschen. Wertvolles ist immer knapp. Ja, der Wert selber ist fast vollständig durch Verknappung bestimmt. Da bin ich bei @henblower.

    Dennoch würde ich den Wertverlust nicht mit einem beschränkten Musikangebot erkaufen wollen. Auch die Tendenz, dass Musik immer mehr zur Weltmusik wird, dass lokale Eigenheiten verschwinden und es immer seltener auszumachende und prägende Musikstile gibt, ist für mich ein Werteverlust. Eine Entwicklung, die wohl nicht aufzuhalten ist. Sie ist die Folge der kulturellen Globalisierung, die natürlich mit der wirtschaftlichen einher geht.

    Jazz als erste Weltmusik hat es vor gemacht.
     
  16. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Es ging mir darum, wie die Leute heute Ressourcen nutzen, die fast jedem zur Verfügung stehen. Die gebratenen Tauben fliegen einem nichts ins Maul, man muss schon danach googeln ...

    Grüße
    Roland

    PS:
    Wenn es danach ging, was meine Mutter liebte, müsste ich Volkslieder hören.
    Wenn es danach ging, was mein Vater machte, müsste ich Hobbyfotograf sein.
    Wenn es nach meine Großvater ginge, wäre Marschmusik angesagt.
    Wenn es nach den Nachbarn ginge, wäre WDR 4 mein Favorit.
    Wäre es nach meinen Mitschülern gegangen, dann Rock, eher weniger Pop.
    Nach Aussage meines Nachbrn wäre ich Jungfrau, denn 'Mit der mucke krisse keine Frau ins Bett."
     
  17. ppue

    ppue Experte

    Ich weiß schon, was du meinst, aber ich habe ein andere Auffassung von dem, was man "freien Willen" nennt.

    Stellt sich die Frage, was hätte passieren müssen, damit du ein anderer geworden wärest?
     
  18. Gerrit

    Gerrit Guest

    Zitat ppue: „Ich glaube nicht, daß der kleine Mann damals oft die Möglichkeit hatte, Oratorien zu hören.“

    Doch diese Möglichkeit bestand und ist überliefert. Man weiß recht genau, was zum Beispiel Johann Sebastian Bach oder Telemann in Hamburg trieben und daß etwa Kantaten u.ä. durch ihre liturgische Einbindung innerhalb des Kirchenjahrs weitaus mehr Leuten zu Gehör kam als wenigen Mitgliedern einer feudalen Oberschicht. Und: Seit der Verbreitung des Buchdruckes fanden nicht nur grafische Werke oder Schriften eine zunehmende Verbreitung, sondern auch Kompositionen...

    Seit der Renaissance erlebt das Kunstschaffen, also auch die Musik, eine zunehmende „Verbürgerlichung“. Diese greift im Verlauf der Neuzeit immer weiter um sich. Dies schlägt sich in vielerlei Quellen nieder hat verschiedene Ursachen. Man erkennt diesen Prozess auch daran, daß die betreffenden Künstler aus der starren Bindung an höfischen Kontext oder Auftraggeber aus feudalem oder hochkletikalem Umfeld sich zunehmend lösen - mit allen Vor- und Nachteilen für sie selbst.
     
  19. Gerrit

    Gerrit Guest

    Zitat ppue: „Und solche Sätze kommen dann dabei heraus. Ja, für mich klingen die fast schon überheblich, denn ich halte die damalige wie auch die heutige Schere nicht für selbstverschuldet. In erster Linie kommt es darauf immer noch darauf an, in welche Kreise man hinein geboren wird.“

    Kant ging es, als er diesen Satz formulierte überhaupt nicht um soziologische Aspekte, die Du heute hineinliest. Ihm lag an den erkenntnistheoretischem Prinzipien. Diese Prizipien besaßen für ihn universalen Charakter losgelöst von soziologischen Aspekten. Seine Absicht bestand damals darin, zunächst diese Prinzipien zu beschreiben und zu definieren.
     
  20. Gerrit

    Gerrit Guest

    Zitat ppue: „Mag sein, dass die Masse der angebotenen Musik sie selbst entwertet. Das liegt in der Natur der Dinge und nicht an der Mündigkeit der Menschen. Wertvolles ist immer knapp. Ja, der Wert selber ist fast vollständig durch Verknappung bestimmt.“

    Das ist eine rein ökonomische, mechanistische Definition des Wertbegriffes. Auch andere Definitionen sind möglich und - angesichts des Weges, den unsere Gesellschaft nimmt - auch mindestens eine Überlegung wert.
     
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