kollektiv - individuell

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von ppue, 7.Mai.2017.

  1. ppue

    ppue Experte

    Nichts für Ungut, @Saxoryx. Ich nehme das Zitat mal als Aufhänger für einen neuen Thread.

    Mit der Auffassung negierst du den gesamtkulturellen Zusammenhang, in dem wir leben. Jegliche Kunst hat eine historische Komponente; man nennt das auch Tradition. Innerhalb der Tradition entwickelt sich Kultur weiter und zwar immer an den Bedürfnissen und an den aktuellen Problemen, die die Gesellschaft hat. Alles ist ständig abgekupfert und wird imitiert. Das ist ein wichtiger Prozess in der Gesellschaft, der die einzelnen Personen spiegelt.

    Das Schielen nach der einzigartigen Persönlichkeit, dem eigenen Sound, den eigenen musikalischen Ideen, ist auch nur eine Erscheinung des Zeitgeistes (Insofern müsstest du dich da auch wieder von absetzen (-;).
    Sie gehört allerdings ins letzte Jahrhundert, in dem uns die Mediengiganten einen Star nach dem anderen präsentierten.

    Die Zeit der Stars ist vorbei. Wir leben im Fusionszeitalter und in sozialen Netzwerken. Globalisierung, Völkerverständigung, gemeinsame Lösungen sind gefragt. Wen interessiert da, wie ich auf meiner Tröte klinge oder welchen Ton ich zuerst spiele?

    Eine gute Zeit, um große Orchester zu bilden und kollektiv zu improvisieren, so wie wir das Ende der 70er taten.
     
    sachsin, deraltemann, Juju und 4 anderen gefällt das.
  2. Dreas

    Dreas Gehört zum Inventar

    Sehr richtig @ppue .

    Alle großen Künstler, egal ob in der Musik, Malerei, etc. , haben imitiert und kopiert, immer wieder, und darüber ihren eigenen Stil gefunden. (Man hänge mal nur einige Bilder der Expressionisten oder Impressionisten nebeneinander!)

    Über Nachmachen lernt man auch am schnellsten.

    Und für mich ist auch "kollektiv - individuell" kein Wiederspruch,
    sondern ein sowohl als auch...;)

    CzG

    Dreas
     
  3. Gerrit

    Gerrit Guest


    Das sehe ich auch so! Leider gibt es spätestens seit der Romantik einen - böse gesagt - Personenkult in Kunst und Musik.
     
    bluefrog gefällt das.
  4. Gerrit

    Gerrit Guest

    Das sind feine Gedanken. Aber um Deine Zuversicht etwas zu dämpfen: wir leben auch in einer Zeit der Individualisierung. Es geht nicht nur darum, den individuellen Profit zu maximieren (i.d. Regel auf Kosten der sozialen Syteme), sondern auch den individuellen Lustgewinn... damit geht einher eine Emotionalisierung, die man in vielen, nicht nur politischen Debatten und Diskursen beobachten kann (nicht unsonst sind Populisten derzeit recht erfolgreich). Das sind eigentlich voraufklärerische Tendenzen. Diese Strömung reicht leider bis in die Musik- und Instrumentalpädagogik hinein (Spaßpädagogik). Um so wichtiger ist es, dem etwas entgegenzusetzen, z.B. - wie Du schreibst - Ensemblearbeit, kollektives Musizieren.
     
    sachsin, bluefrog und last gefällt das.
  5. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Das muss nicht negativ sein, wenn der Kult nicht zum sprichwörlichen "Kult" wird. Die Zuordnung von Wegen und Stilen hilft beim Sortieren, um das ich bei der heutigen Vielfalt nicht herum komme. Wenn sich jemand nur ein wenig auskennt, weiß er/sie z.B. viel über mich, wenn ich sage, dass ich Sonny Stitt und Chris Potter sehr mag und Coltrane und Brecker eher weniger höre. Wenn ich eindeutig zuzuordnende Namen nennen kann, brauche ich keine eher nebelhaft beschreibende Begriffe.
     
    Rick gefällt das.
  6. ppue

    ppue Experte

    Richtig, @Gerrit.

    Gerade machen wir eine zyklische Antibewegung weg von demokratischen Strukturen durch. Das tut der Gesamtentwicklung aber keinen Abbruch. Der rechte Aufbruch ist meines Erachtens schon wieder auf dem absteigenden Ast. (Ich sollte vielleicht eben die ersten Hochrechnungen in Frankreich abwarten (-;)

    Ich sage dennoch voraus, dass es die großen Namen wie Sonny Stitt, Chris Potter, Coltrane und Brecker in Zukunft nicht mehr so häufig geben wird.
     
    Zappalein R.I.P. und Rick gefällt das.
  7. Gerrit

    Gerrit Guest

    Na ja, so einfach ist das nicht: man nennt ja die Namen um an die Musik zu erinnern oder um die Sprache auf diese zu bringen. Mit den Stilen ist das auch so eine Sache: die sind, wenn man genau hinschaut oder -hört, auch kaum absolut zu definieren. Deshalb nahm man etwa in der Kunstgeschichtsschreibung (der wissenschaftlich fundierten) spätestens etwa seit den sechziger Jahren Abstand von einer stilitischen Kunstfeschichtsschreibung, es gewannen die soziologischen, historischen und rezeptionsgeschichtlichen oder -theoretischen Ansätze die Oberhand, mit guten Gründen. Natürlich erkennt man z.B. die Musik etwa Joe Lovanos, aber man kommt nicht darum, die verschiedenen Einflüsse, denen er ausgesetzt ist oder auf due er bewusst zurückgreift, herauszuhören. Das mindert seine Leistung überhaupt nicht. Überspitzt formuliert: wenn es Charlie Parker darum gegangen wäre, sein Ego, seine Psyche auszubreiten, dann hätte er seine Tagebücher veröffentlicht, seine Krankenakte, seine Kontoauszüge und so weiter, aber er entschied sich, Musik darzubieten, etwas das über seine Person weit hinaus ragt...
     
  8. Gerrit

    Gerrit Guest

    Hoffen wir, daß Du mit Deiner Prognose betreffend der politischen Situation recht behälst. Ich wage betreffend der "großen Interpreten" ehrlich gesagt keine Vorhersage, was geschieht, das ist ein weites Feld. Aber Deine Theorie ist sehr interessant!
     
  9. Rick

    Rick Experte

    Genau, diese Epoche hat mich ja sehr geprägt, deshalb versuche ich auch mit meiner Big-Band gelegentlich den Geist der großen Kollektiv-Improvisation mit einfachen Head-Arrangements wach zu halten.
    Das kommt insgesamt beim Publikum besser an als ausgefeilte, herausfordernde, akkurat interpretierte Nummern. Wenn so eine große Besetzung plötzlich nicht mehr nur eingeübte Noten abspielt, sondern völlig spontan agiert, herrscht plötzlich eine ganz andere Atmosphäre im Saal, ich liebe das. :)

    Doch wir hatten auch Mitspieler, die das Spontane hassten und deshalb sogar schließlich die Band verließen. :-(
     
    sachsin, bluefrog und ppue gefällt das.
  10. Gerrit

    Gerrit Guest


    Ich möchte Dir widersprechen mit einem Beispiel, wobei ich vorweg schicke, daß ich Dich nicht im Dunstkreis der von mur nachfolgend erwähnten Person sehe oder stellen möchte. Dieser Hinweis ist mir sehr wichtig! Es ist mittlerweile bekannt, daß im Kreise einiger Nazi-Größen, Göring etwa, sogenannte "entartete Kunst" "gesammelt" wurde. Nun: da hängt in Görings zusammengeraubter Sammlung also das eine oder andere "entartete Werk", was sagt das über ihn? Gar nichts oder herzlich wenig. Diese Werke mit denen er sich umgab, verwandelten seinen Charakter überhaupt nicht. Emil Nolde äußerte sich gelegrntlich antisemitisch: trotzdem wurde er mit Malverbot belegt, trotzdem gilt sein Werk gemeinhin nicht als antisemitisch... Es ist also nicht so einfach mit der Relation zwischen "Stil", Person, Psyche, Rezeption...
     
    bluefrog und Rick gefällt das.
  11. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Ein Kollektiv von Individualisten wäre mir am liebsten :D, allerdings ist das Zeitalter für große Orchester mit Hinblick auf finanzialle Machbarkeit leider vorbei, wie mir scheint, jedenfalls gibt es nicht besonders viele (Jazz-)Orchester, die heutzutage für mehrere Wochen oder gar Monate auf Tour gehen und davon leben können, das ist ja kaum noch mit einem Quartett möglich... :(

    LG Juju
     
    ppue gefällt das.
  12. ppue

    ppue Experte

    Im Prinzip kannst du die Entwicklung heute schon ablesen, wenn du die Liste der Saxophonisten durchgehst und zählst, wie viele wirklich große Namen im Jahr 1970 lebten und wie viele es 2017 sind.
    Was die wirklich großen sind, kannst du dir aussuchen. Bei mir sind es 67 Saxophonisten im Jahr 1970 und 35 im Jahr 2017.

    Das ist sicher richtig. Ich bin im Kleinkunstbereich tätig. Da sind schon die Trios regelrecht ausgestorben.

    Wenn man Musik nicht professionell betreibt, bieten Musikkollektive dennoch feine Möglichkeiten zum gemeinsamen Spiel. Wir haben hier in der Gegend so einige Laienorchester, die sogar ein wenig Geld damit verdienen können. Für Profis bietet sich ja die Möglichkeit, neben kleinen Gruppen so etwas wie eine Allstar-Bigband für Festivals zu gründen.

    Vielleicht ist hier auch etwas mehr Fantasie gefragt. So gut wurden die größeren Bands in den 70ern auch nicht bezahlt. Ich meine jetzt nicht die damals noch mannigfaltigen Rundfunkorchester, eher die freie Szene.
     
    sachsin und Rick gefällt das.
  13. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    In @Rick s Bigband, in der ich auch mitspielen darf, sind etwa ein Drittel der Musiker Profis, die das aus Spass an der Freude machen. Geld gibt es nicht zu verdienen, die Gage geht für Unkosten drauf.

    LG Helmut
     
    Rick gefällt das.
  14. ppue

    ppue Experte

    Ja, so meinte ich das. Ein bisschen Selbstausbeutung darf auch sein.

    Ich finde es gut, wenn studierte Musiker selbstbewusst ihre Gage einfordern. Für mich steht das erst an zweiter Stelle und das, obwohl ich davon lebe.
     
  15. Gelöschtes Mitglied 11184

    Gelöschtes Mitglied 11184 Guest

    ich hoffe, dass Du recht hast...man kann immer mehr beobachten, dass versucht wird das freie Internet in den Griff zu bekommen... kann doch nicht sein, dass jeder seine Meinung sagt und jeder kann es auch noch lesen.... früher konnte man alles super steuern.... aber sie werden dieses Problem in den Griff bekommen....
     
  16. Rick

    Rick Experte

    Bei der letzten Zählung kamen wir sogar auf etwa die Hälfte Leute, die beruflich oder ehrenamtlich viel mit Musik zu tun haben, beispielsweise mit Ensemble-Leitung in der Schule oder Nachwuchs-Ausbildung in der Kirche. Und ja, Geld verdienen wir nicht, bekommen bestenfalls unsere persönlichen Unkosten raus.
    Aber diese Großformation macht uns einfach einen Riesenspaß, dafür nehmen wir auch manchen Aufwand in Kauf - ein schöner Ausgleich für unangenehme musikalische "Brot-Jobs"! :)

    Problematisch wird es nur gelegentlich mit den Terminen - am 30. April haben wir einen "Swing in den Mai" gespielt, für den wir mehrere bezahlte Aushilfen anheuern mussten, weil einige unserer Profis ihre "Tanz in den Mai"-Gigs zu absolvieren hatten (mit Tränen in den Augen, weil sie nicht bei uns dabei sein konnten, wie sie später sagten).
     
    Zuletzt bearbeitet: 7.Mai.2017
    Saxfreundin und bluefrog gefällt das.
  17. deraltemann

    deraltemann Strebt nach Höherem

    Ich glaube beides hat seine Berechtigung.
    Ich würde gerne mit einer Big Band was tun..aber ich mag auch mein eigenes Zeug tun ..
     
    claptrane gefällt das.
  18. sachsin

    sachsin Strebt nach Höherem

    Mal ein Beispiel für spontane Ensemblearbeit und meine (derzeitige) individuelle Rolle im kollektiven Geschehen:

    Ende Mai findet unser jährliches Schulfest statt, das Schüler wie Lehrer gemeinsam sportlich, kulturell und kulinarisch bestreiten.

    Als kulturellen Höhepunkt hat sich ein Schulchor sowie eine Schulband (Gitarre, Cajon, Xylophon, Tenor- und Altsaxophon) mit Schülern und Lehrern gebildet.
    Beide Formationen haben gemeinsam drei Lieder ausgewählt und in den vergangenen zwei Monaten erstmal für sich allein geübt.
    Am Rande bemerkt: jeden F r e i t a g - Nachmittag nach dem Unterricht (also nach einer anstrengenden Schulwoche für Schüler wie Lehrkräfte).

    Nun, letzten Freitag haben sich beide Ensemble das erste Mal zur gemeinsamen Probe getroffen und es stellte sich heraus: es ist noch viel Feinarbeit notwendig, um eine gemeinsame Interpretation der Lieder zu finden.
    Während sich die Schulband bei ihren Proben rhythmisch und in Tonlage am Orginal der Songs orientierte, - hat der Chor entsprechend seiner gesanglichen Fähigkeiten eine Fassung erarbeitet, die in der Interpretation vom Original abweicht, doch deswegen nicht uninterressant ist. Wir als Band müssen uns nun dem Chor anpassen in Rhythmik und Stimmlage, d.h. für meine Kollegin am Tenor und mich am Alto unsere Begleitung zu transponieren und die veränderten Grifffolgen zu trainieren. Beide haben wir mit unserem Saxophon keine Solo zu spielen, sondern haben die Basslinie der Stücke übernommen. Das klingt für manchen Saxer vielleicht nicht sehr spannend, doch für die Spiel- und Sangesfreude unseres kleinen Ensembles stellen wir uns gern in den Dienst der Sache.

    Der Threadtitel " Kollektiv - Individuell" ist von @ppue treffend gewählt um sich mit den Ambivalenzen der eigenen Befindlichkeiten beim Musizieren auseinanderzusetzen, bezogen auf das Ausgangszitat von @Saxoryx "Die Betonung liegt dabei auf "Imitieren". Das heißt, man drückt nicht seine eigenen Wünsche und Ideen aus, sondern die von jemand anderem. Die nicht zu der eigenen Persönlichkeit passen müssen. Bzw. gar nicht passen können, weil jeder Mensch anders ist."

    Ich mache gerade eine tolle Erfahrung, was man beim Spielen als Begleiterin und fremder Interpretation alles lernen kann .... Einfach darauf einlassen und Spass dabei haben :D

    Liebe Grüße aus Dresden
    :)
     
    Zuletzt bearbeitet: 7.Mai.2017
    gargamel141, edosaxt und flar gefällt das.
  19. JES

    JES Gehört zum Inventar

    Also, zwei Themen hier unter einem Dach.

    Imitieren ist der Weg, seine Technik zu perfektionieren. Man weiß, wie es klingen muss, und man hört sich selbst, wie gut oder schlecht man beim kopieren ist. Langfristigen erfolg als Künstler hat man damit m.E. nicht, da man auf einer Welle schwimmt, die irgendwann in sich zusammenfällt. Große Künstler haben IHREN Weg gemacht, teilweise kam der Erfolg eher zufällig und verspätet.
    Ob so etwas heute noch geht...ich denke schon.

    Bzgl. guter Zeit eine BigBand zu gründen habe ich meine Zweifel. Die Ü50-Generation, die Gruppenleben noch aus der Jugend kennt, wird sich engagieren. Aber was ist mit dem Nachwuchs? In Zeiten des Individualismus, des Erfolges ohne Investition, wäre so eine Band eher temporär und nicht dauerhaft. Lohnt es sich dann für die "Alten" so etwas anzufangen oder bleibt man lieber kleiner und unter sich?
     
  20. DieTonTraegerin

    DieTonTraegerin Nicht zu schüchtern zum Reden

    Den Spagat Imitieren - Individualisieren kennt jede Kunstform. Ich hab das für mich immer so gesehen, dass die Imitation der Vorgang ist, durch den man das Handwerk lernt; die Individualisierung kommt schleichend dazu und führt zur Entwicklung des persönlichen Stils. Wenn dann noch eine große Schöpferkraft hinzu kommt, wenn sich jemand in seiner Kunstform ausdrücken will oder sogar muss, dann entwickeln sich ganz eigene Dinge, evtl. weg vom "Mainstream". Und je nachdem, wie diese Dinge von der Gesellschaft aufgenommen werden, zieht der "Mainstream" u.U. sogar in diese Richtung nach.
    Wenn man den Begriff des "Stars" als jemanden sieht, dessen persönlicher Stil zur Beeinflussung des "Mainstreams" geführt hat (ob das nun beabsichtigt war oder nicht), dann gab es Stars schon immer - der "Mainstream" war noch nie statisch und selbst Traditionen waren und sind einem Wandel unterworfen. Und wo sollte dieser Wandel herkommen wenn nicht von einzelnen Menschen, die ihrer eigenen Stimme gefolgt sind?

    Kollektiv und individuell schließen sich für mich dabei nicht aus. Wenn ich mit Kollegen zusammenspiele, dann hat jeder davon seinen eigenen Sound, seine eigene persönliche Note, schreibt Songs in seinem ganz eigenen, persönlichen Stil. Aber wenn es gute Musiker sind, dann wissen sie, was der Musik dient und können deshalb auch zusammenspielen, dem anderen seinen Platz lassen, sich aufeinander einstellen, ohne dass das ihrer Individualität einen Abbruch tun würde. Das ist für mich dann auch echtes gemeinsames, lebendiges Musikmachen. Nur wenn zuviele übergroße Egos dabei sind, wird's schwierig.
     
  1. Diese Seite verwendet Cookies, um Inhalte zu personalisieren, diese deiner Erfahrung anzupassen und dich nach der Registrierung angemeldet zu halten.
    Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies.
    Information ausblenden