Wieviel Harmonie"lehre" ist da drin ...?

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Stevie, 16.Juni.2016.

  1. Stevie

    Stevie Ist fast schon zuhause hier

    Liebe Saxfreunde,

    ich frage mich gelegentlich, wieviel Harmonielehre unsere "großen Vorbilder" im Jazz tatsächlich angewandt haben. Ich sage es gleich vorneweg: Ich habe dazu keinerlei Erkenntnisse und würde mich freuen, wenn jemand Erkenntnisse hätte und hier mit uns teilen würde.

    Ich frage mich also, ob - sagen wir mal Coltrane - sich hingesetzt und komplexe Harmoniefolgen ausgetüftelt hat oder ob er schlicht mit den Bandkollegen, die ja auch sämtlich absolut führend auf ihrem jeweiligen Instrument waren, gesucht, probiert, gespielt, verworfen und wieder gespielt hat, bis da was war, was den Vorstellung an Klang und Komplexität und Neuartigkeit entsprach.

    Wenn man das Buch von Ashley Kahn zu "A Love Supreme" liest, habe ich den Eindruck, dass eher die spielerische Herangehensweise der Realität entspricht. So wird zum Beispiel berichtet, dass Coltrane mit Aufzeichnungen zur Aufnahmesession kam, auf denen lediglich die Struktur aber keinerlei Harmonien wiedergegeben waren.

    Die Komplexität der verwendeten Harmonien, ist dann möglicherweise eher im nachhinein theoretisch nachvollzogen worden, um zu verstehen, was das Neue und Revolutionäre dieser Musik ausmacht - auch um dann auf dieser Basis zu lernen und sich selber weiterzuentwickeln.

    Was die Schlussfolgerung aus all dem wäre, weiß ich auch nicht so genau: aber es sagt schon etwas über die schöpferische Kraft und Ursprünglichkeit einer Musik aus, wenn sich deren Komplexität und Eindringlichkeit gewissermaßen aus dem Moment heraus entwickelt - ohne (besondere) Rücksicht auf theoretische Konzepte. Nicht falsch verstehen - ich denke schon, dass die genannten Musiker auch ihre Theorie verstanden haben; dass dem aber beim Spiel eine untergeordnete Rolle zukam. (Geht so in die Richtung das Charlie Parker - Zitates, dass sinngemäß sagt, dass man Harmonielehre pauken und dann wieder vergessen und spielen soll).

    Kann jemand von Euch dazu etwas sagen?

    So long

    Stevie
     
  2. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Hurra, endlich wieder ein Theoriediskussion! Ich hol' schon mal Popcorn ...

    Im Ernst:
    Wenn Du kreativ sein willst, hilft es ungemein, die Regeln zu kennen. Entweder, um sich daran zu halten, mit ihnen zu spielen, sie auszuweiten oder zu brechen. Ob das Wissen explizit oder implizit erlangt ist, Du setzt immer auf irgendeine Art von Wissen auf.

    Wir werden nicht mit der Durleiter geboren und sie ist auch kein Naturgesetz. Dasselbe gilt für Spannungsbögen und musikalische Abschnitte über Vielfache von Zweierpotenzen. Analog für Takt, Rhythmik, ....

    Grüße
    ROland
     
  3. JES

    JES Gehört zum Inventar

    k.A.
    Ich kann da nur von mir ausgehen. Mich behindern Regeln, die ich lernen muss. Ich lerne Regeln leichter aus der Erfahrung heraus und aus Übertragung auf andere Situationen (wenn es an dieser Stelle funktioniert hat, dann sollte es an anderer Stelle den gleichen Zweck erfüllen).
    Eine Impro an Hand von Regelwerken auszuknobeln wird nix. Licks auswendig lernen wird auch nix, hilft höchstens über die eigene Unfähigkeit hinweg, etwas selbst zu kreiren.
    Umgekehrt brauche ich schon ein paar Grundinfos zum Stück, z.B. Tonart, Vorzeichen, ev. Tonartwechsel, Grundstruktur, damit ich überhaupt ausprobieren kann. Sonst wird es Chaos (kann auch reizvoll sein :) ).
    JEs
     
  4. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

  5. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Es ist ja meistens so, auch in der sprache zB, das sich zuerst was ändert, die Theorie folgt dann nach, und erklärt warum das so ist oder sein könnte. Dialekte/ spezielle Spielweisen etc entwickeln sich erstmal ohne Theorie, idR jedenfalls.



    http://www.swing-jazz-berlin.de/
     
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  6. last

    last Guest

    Die haben nach Gefühl / Bauch improvisiert (z.B. zu Charlie Parker meint Wikipedia: Er spielte dabei für die Zeit kühne Dissonanzen und rhythmische Verschiebungen, die jedoch allesamt von seinem Gefühl für melodische Schlüssigkeit geprägt waren) hinterher haben die Theoretiker geguckt, welche harmonietechnischen Regeln dazu passen....
    my 2 cent...
    Manchmal hab ich den Eindruck, dass sich für nahezu jede Tonfolge irgendeine musiktheoretische Begründung finden lässt.

    LG
    last
     
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  7. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    "...
    Russells Biografie zufolge hatte Parker auf einer Jam-Session mit Mitgliedern der Count-Basie-Bigband ein Schlüsselerlebnis: Er spielte damals so schlecht, dass Schlagzeuger Jo Jones vor Wut sein Schlagzeug-Becken auf den Fußboden warf. Danach ließ sich Parker während eines Engagements am Lake Taneycomo vom Gitarristen seiner Combo in Harmonielehre unterrichten. Augenzeugen zufolge war er danach wie verwandelt: Von einem wenig kompetenten Saxophonisten mit miserablem Ton hatte er sich in einen fähigen und ausdrucksstarken Musiker entwickelt, der es nun sogar mit weit erfahreneren Saxophonisten aufnehmen konnte.
    ..."
    Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Charlie_Parker

    Was wäre daran schlimm? Vom Mythos zum Logos ...

    Grüße
    Roland
     
  8. last

    last Guest

    Nichts. Ich hab nur meinen Eindruck wiedergeben wollen... das war völlig wertfrei gemeint...

    LG
    last
     
  9. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Ah, danke. Ich war mir da nicht sicher. Man hat ja kein Gestik und keinen Tonfall im Forum. :)

    Grüße
    Roland
     
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  10. Andrea

    Andrea Kann einfach nicht wegbleiben

    Meine Sicht: Die schönsten Soli entstehen, wenn man nicht aktiv denkt, sondern das spielt, was man (voraus)hört. So wurde ich auch an der Musikhochschule unterrichtet: "Spiel, was du hörst."
    Andererseits geht es nicht ganz ohne Theorie. Um zu wissen, was man mag, was sich gut anhört, und es wieder anzuwenden, ist es sehr sinnvoll herauszufinden, warum es sich gut anhört und warum anderes sich nicht gut anhört.
     
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  11. ppue

    ppue Experte

    Kein Mensch denkt aktiv bei Soli. Selbst der ausgefuchsteste Theoretiker hat sein Material vorher in den Fingern. Dass Theorie das Spiel behindert, ist Unsinn.

    Und das Gerede von Musikern, die alles nur nach Gehör und aus den Bauch spielen, ist auch ziemlicher Blödsinn. Es gibt sicher hier und da eine Ausnahme, z.B. Billie Holiday, die keine Noten lesen konnte (wenn die Überlieferung denn mal stimmt), aber der überwiegende Teil der Jazzer hatte natürlich Ahnung von Theorie.

    Wenn man professioneller Musiker ist, sich jeden Tag mit Tönen beschäftigt, mit Kollegen diskutiert, Noten liest oder selber komponiert, dann ist das bisschen Theorie, was für viele hier ein Buch mit sieben Siegeln ist, ein lächerlicher Klacks. Man müsste schon bewusst weggehört haben, wenn man nach 20 Jahren Berufserfahrung keine Akkordsymbole oder II V I-Verbindungen entschlüsseln kann.
     
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  12. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

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  13. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Kann nur die Miles-Autobiographie empfehlen, die vermittelt einen guten Eindruck, dass in der Branche viele (nicht alle) theoriesuchend waren. Es gab damals keinen Sikora zu kaufen, daher war ein klassisch ausgebildeter Musiker zunächst eine genauso gute Quelle wie Thelenious Monk, ein Gil Evans oder ein George Russell. Leute wie Miles haben sich angeschaut, wie die das betrachten, es war aber nichts in Stein gemeißelt.
     
  14. ppue

    ppue Experte

    Es ist bis heute nichts in Stein gemeißelt. Die Theorie folgt den Musikern und Komponisten. Es gibt kein Regelwerk, aber viele schöne Gedanken und Theorien.

    Ich bleibe aber dabei: Selbst der, der nicht theoriesuchend war, wird die Basics gewusst haben.

    Ich selbst habe nie ein Harmonielehrebuch durchgearbeitet.
     
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  15. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Natürlich nicht. Es heißt ja auch 'Musiktheorie' und nicht 'Ultimative Musikwahrheit'. :)

    Grüße
    Roland
     
  16. last

    last Guest

    ...meine Worte...

    ...hat doch auch keiner bestritten, oder? :confused:

    LG
    last
     
  17. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Bei vielen Post klingt durch, dass es doch eine Abkürzung geben muss zum heiligen Gral der geilen Improvisationen. Statt sysiphusmäßig zu üben also warten, dass einen die Muse küsst. Wenn hier aber von "aus dem Bauch" und "spiel was du hörst" die Rede ist, dann meint das praktisch, dass der Saxophonist unendlich viel gehört und nachgespielt hat. Bis in die Bebop-Ära hinein war das wohl das hauptsächliche Verfahren, um flüssig improvisieren zu lernen. Man schaufelte unendlich viele Licks, Patterns, Motive, Arpeggios, Skalen und Zitate in sich hinein, damit man "aus dem Bauch" spielen konnte. Wo nix drin ist, kommt nix raus.

    Zusätzlich gab es dann Leute wie Coltrane, die bekannterweise fast verbissen Stunden über Stunden Akkordverbindungen geübt haben. Das berühmte "Giant Steps" ist nichts anderes als das Ergebnis von vielen 100 Malen diese 16 Takte durchgehen in immer wieder anderen Richtungen und Verbindungen, bis es automatisiert (nicht "auswendig!") "aus dem Bauch" fließt.

    Mycket att göra!

    Gaga
     
  18. Rick

    Rick Experte

    Eine der berühmtesten Jazz-Anekdoten - doch was war damals so schlecht an Parkers Spiel, der doch immerhin schon bei einer Profi-Band mitwirkte und sich auf Sessions mit den Großen traute?
    Ging es wirklich um mangelhafte Harmonielehrekenntnisse?

    Eines von Parkers typischen Erkennungsmerkmalen war sein früher Hang zur "Double Time", also zu doppelt so schnellen Läufen wie normal, Sechzehntel statt Achtellinien.
    Aber wenn das jemand noch nicht so beherrscht, wenn seine Läufe eine Spur zu langsam sind, dann wirft er sich selbst raus, verliert den Faden und weiß nicht mehr, wo er im Song ist. Genau dies soll Parker passiert sein - und unexaktes Timing von Solisten ist etwas, was Schlagzeuger partout nicht leiden können, deshalb das Becken.

    Warum dann der Rückzug und das einsame Training in einer abgelegenen Hütte?

    Da kamen wohl einige Dinge zusammen, die Parker damals frustrierten, vor allem, dass er Klänge in sich hörte, die er noch nicht umsetzen konnte. Angeblich hat er sich dann weniger mit musiktheoretischen Überlegungen als vielmehr mit Technikübungen in allen Tonarten beschäftigt und Geschwindigkeit trainiert, um nie wieder rauszufliegen. ;)

    Sicherlich hat er sich von dem Gitarristen auch ein paar harmonische Zusammenhänge erklären lassen, aber Charlie Parker war angeblich überdurchschnittlich intelligent - um die Grundlagen der Musik, mit der er sich ohnehin bereits seit seiner Kindheit beschäftigte, zu verstehen, wird er wohl kaum mehrere Monate gebraucht haben, dafür haben wahrscheinlich ein paar Aha-Effekte ausgereicht.

    Nein, er hat ganz simpel und profan GEÜBT, Akkordbrechungen in allen Tonarten in irrwitzigem Tempo. Was er dann anschließend auch zuhauf in seinen Improvisationen eingebaut hat - diesmal mit absolut exaktem Timing. :cool:


    Schöne Grüße,
    Rick
     
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  19. last

    last Guest

    Hier ist jedenfalls jede Menge Harmonielehre drin...

    LG
    last
     
  20. RainerPusch

    RainerPusch Schaut nur mal vorbei

    Um eine Sprache zu sprechen und verstanden zu werden, braucht man einen Code. Wenn ein Baby einen Schrei von sich gibt, kann man sich noch mit Raten weiter helfen: Hunger, Müde, Hose voll? Nicht nur bei philosophischen Betrachtungen, sondern auch bei Gedichten, aber auch im Alltag wird das schon schwieriger. Mit einem System "6 aus 39" geht die Trefferquote statistisch stark nach unten. Ein Grund nicht Lotto zu spielen...
    Der Code basiert auf einem Vokabular und einer Gramatik. Angewandt auf auf Musik, hängen diese hauptsächlich vom Stil ab.
    Jerry Bergonzi sagte mir mal in einer Unterrichststunde, bei der wir über Mc Coy Tyner redeten: " Just take out the the voicings in 3rds and replace them with voicing in 4th - sounds like Mc Coy. I don' t know, if he thought like that, but it works!"
    Bird benutzt halt sehr viele Appoach- notes und Passing notes, um das Tonmaterial auch mit nicht klangerhaltenden Tönen zu erweitern. Hierbei ist der
    melodischen Rhythmus ist ein wesentlicher Bestandteil, um eine gute, d.h. den Klang des Moments darstellende Linie zu erhalten.
    Mit Hilfe diesen Überlegungen kann man seine Übzeit intelligenter und effizienter einsetzen.
    Und beim Spielen mit anderen ist es dann wieder wie beim Erlernen jeder Sprache: Man redet nach einiger Zeit des Übens von Vokabeln und Grammatik einfach sicherer, was wiederum der Spontanität zu gute kommt und mit dem Gefühl auch verstanden zu werden.
     
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