Das kann jeder ...

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von bebob99, 21.Juni.2020.

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  1. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    In einem anderen Thema habe ich darüber aufgeregt, dass immer wieder allgemeine Floskeln benutzt werden, die vermutlich andeuten sollen, dass man nicht aufgeben soll und sich vielleicht doch ein gewisser Erfolg einstellen wird, wenn man es beharrlich weiter versucht.

    Einige die meinen (wieder einmal längeren) Text wahrscheinlich nur oberflächlich gelesen haben, haben vermutlich missverstanden was ich geschrieben habe. Dementsprechend waren einige Reaktionen sehr emotionell und nicht inhaltsbezogen. Ich möchte das Thema aber nicht im Streit einfach unter gehen lassen. Vielleicht findet sich ja doch jemand, der das auf sachlicher Ebene diskutieren möchte.

    Auslöser war der sicherlich gut gemeinte Rat:

    Ich bekomme bei solchen Aussagen regelmäßig Ausschlag, weil das für MICH eher wie ein Schlag ins Gesicht ist als ein freundlicher Rat. Warum ist das so?

    Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste und habe einige Erfahungen im Leben gemacht, die sicherlich anders sind als die Erfahrungen anderer. Unter anderem kann ich auch gut abschätzen was mir leicht fällt, was mir schwer fällt und was ich vielleicht ein Leben lang nie können werde. Das ist OK. Niemand kann alles.

    Aber genau DAS behaupten solche "freundlichen Ratschläge". "Das kann jeder". Ich offenbar nicht. Was bedeutet das? Das ich nicht genug geübt habe? Dass ich "falsch" geübt habe? Nein wahrscheinlich nicht denn "Verlasse Dich auf Dein Gehör". Ah. das ist es. Das geht also irgendwie doch automatisch. Nur genug hören, dann klappt auch das Spielen.

    Tut es das? Das ist doch genau wieder nur eine Annahme, wie man sie immer wieder liest:

    Warum sollte das so sein? Wenn ich es pfeifen kann, dann kann ich es pfeifen, nicht spielen. Wo ist denn da der Automatismus? Wenn ich essen kann, kann ich noch lange nicht kochen, egal wie viele wunderbare Gerichte ich schon gegessen habe oder wie viele Geschmacks Nuancen ich darin erkenne.

    Es sind genau diese impliziten Annahmen, die mich regelmäßig auf die Palme bringen, denn aus meiner Erfahrung sind die ganz und gar nicht selbstverständlich und offenbar bin ich mit der Erfahrung auch nicht alleine. Aber in einem Musik spezifischen Forum ist natürlich zu erwarten, dass sich hier überdurchschnittlich viele Menschen versammeln, die die eine oder andere Begabung in der Richtung haben - oder sie verschwinden meist schnell wieder. Bis auf einige, die trotz gewisser Mängel einfach nicht aufgeben.

    Ich kann nach relativ bescheidener Zeit die Melodie in den verschiedensten Stücken blind mit singen, wenn ich sie oft genug höre. Mein Gehör (Gehirn) ist also vermutlich soweit in Ordnung. Nur übersetzt "sich" der Ton nicht in einen Instrumenten Griff. Den Fingern ist das piepegal. Auch nach über 10 Jahren regelmäßigem Hören und selbstverständlich auch regelmäßigem Versuchen auswendig oder nach Gehör/Vorstellung zu spielen. Ein paar Brocken gehen immer, wenn ich mich optisch orientieren kann, schon deshalb weil ich gar nicht so schnell lesen kann wie ich spielen soll. Es ist also nicht ganz hoffnungslos.

    Der Rat, "jede Woche ein Stück auswendig zu lernen, dann hat man in einem Jahr 50 zusammen und mit der Zeit geht es noch schneller" ist für mich genauso brauchbar wie der Tip "Man muss nur die Aktien dann kaufen wenn sie am Tiefpunkt sind und verkaufen wenn sie am Höhepunkt sind, dann bist Du in nullkommanichts Millionär."

    So ein Vorschlag kann nur von jemandem kommen, dem DAS leicht fällt und der sich vielleicht nicht vorstellen kann, dass das keine biologische Notwendigkeit des Menschseins ist, weil er* es selbst schlicht nicht anders kennt. Soll ich einem Blinden erzählen, er muss sich die Farben nur intensiver vorstellen, dann klappt das schon?

    Ja ich weiß: Üben hilft. Und viel üben hilft viel, besonders wenn man es "richtig" macht - was auch immer das dann im konkreten Fall jeweils bedeuten mag. Aber "das kann jeder" ist in der verkürzt "positiven" Art schlicht Blödsinn und vermittelt jemandem der sich ohnehin schwer tut nur unterschwellig, dass man wohl irgendwie noch selbst "Schuld" daran ist, dass es nicht so klappt wie bei anderen.

    So wie bei der furchtbarsten aller Floskeln, die zeitweise ziemlich inflationär verwendet wird um vorgeblich Menschen Mut zu machen:

    Was auch immer "das" ist. Meist ist damit wirtschaftlicher oder sozialer Erfolg gemeint, aber eben auch irgend eine Leistung und es ist mithin das Böseste was man einem anderen von oben herab an den Kopf werfen kann. Nicht nur macht man sich damit über jemanden lustig, der [das] offenbar nicht geschafft hat sondern man gibt ihm noch gleichzeitig das Gefühl, selbst Schuld daran zu sein, weil er sich eben "nicht genug anstrengt".

    Solche "wohlmeinenden" Ratschläge kommen stets von jemandem der [es] natürlich geschafft hat und gerne ignoriert, dass er vielleicht tatsächlich in irgend einer Weise privilegiert ist. Sei es, dass er ein bestimmtes Talent dafür hat oder in einem sozialen Umfeld agiert, das [es] erheblich leichter für ihn macht als für andere. Nur finden die das dann immer für so selbstverständlich, dass es ihnen gar nicht auffällt.

    Wen ICH es geschafft habe, kann es doch sicher jeder schaffen. Müsste sich einfach noch mehr anstrengen der faule Sack...

    Das ist übrigens gerade heute wieder in der Politik ein beliebtes Thema, wenn "die faulen Arbeitslosen", die wegen der vielen Betriebspleiten jetzt ohne Einkommen da stehen im Gegensatz zu ihren ehemaligen Arbeitgebern vom Staat nur Almosen bekommen - damit sie sich mehr anstrengen.

    Unser Herr Berufs-Sohn und Studienabbrecher hat das natürlich anders formuliert. Da gehe es darum "nicht die Bereitschaft zu reduzieren, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen".

    Immerhin haben wir auf einen angebotenen Arbeitsplatz mittlerweile fünf Bewerber. Da kann es wahrscheinlich schon rechnerisch nicht "jeder schaffen". Aber der Eine der den Job bekommt, hat sich bestimmt den A... mehr aufgerissen als die anderen - oder er kennt wen. Und der erzählt dann den anderen Vier, sie hätten sich "nur mehr anstrengen müssen". Faules Pack. Die haben es verdient arm zu sein.

    Aber das ist dann wieder am Thema vorbei. Oder irgendwie doch nicht.

    Ah ja. Der unvermeidliche Hinweis:
    * Wenn ich "er", oder "ihm" schreibe, dürfen sich natürlich alle Geschlechter angesprochen fühlen. Nicht dass sich noch jemand aufregt, ich würde Teile der Menschheit sprachlich absichtlich ausgrenzen.
     
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  2. Saxfreundin

    Saxfreundin Strebt nach Höherem

    @bebob99: Ich kann Dich verstehen.

    Es gibt unterschiedliche Lehren von Lerntypen,
    unterschiedliche Modelle von Menschentypen,
    unterschiedliche Gehirntypen und vieles mehr.

    All diese Ansätze wollen eines klar machen:

    Wir sind nicht gleich.
    Und wir lernen nicht gleich.

    Es GIBT z. B. Menschen ohne Gehör für die
    „richtigen“ Töne.
    Meine allerliebste Freundin ist so jemand.
    Sie singt mit Inbrunst, laut ... und falsch.
    Sie hört es nicht.
    Sicherlich könnte sie das Gehör trainieren,
    würde vielleicht dauern und langsam besser.
    Bleibt trotzdem die Tatsache, dass viele
    „von Haus aus“ hören, wenn sie daneben
    liegen.

    Somit sind wir alle mit Neigungen und Talenten
    geboren. Der eine kann das besser, der anderen
    fällt dieses leichter.

    Wir sind „bunte Hunde“ - und das ist prima!

    Es gibt 1001 Methoden, etwas zu lernen.
    Idealerweise probiert man Verschiedenes
    aus und gibt sich diese Freiheit lebenslang.
    Mitunter stößt man auf etwas, das einem
    wirklich leichter fällt und/oder viel mehr
    Spaß bringt. Insofern gilt schon der Spruch:
    „Nichts ist unmöglich!“

    ABER:

    Warum sollte der geborene Hänfling mit
    perfekter Statur für Marathonläufe
    zum Gewichtheben „geprügelt“ werden?
    Und der geborene „Stabile“, dessen
    Muskeln sich schon verdreifachen,
    wenn er nur den kleinen Finger hebt,
    zum Marathonläufer trainiert werden?

    Im Sport akzeptieren wir „geborene Talente“.
    Warum soll es sie in der Musik nicht geben?
    Freilich gehört Trainieren zur Entwicklung
    eines Talents.

    Dennoch sind wir NICHT alle gleich und nicht
    jeder kann „alles“ lernen.
    Und auch nicht alle mit der gleichen Methode.

    Was letztlich für uns alle gilt:
    „Probieren geht über Studieren!“

    In dem Sinne:

    Vor allem viel Spaß beim Üben und Spielen! :)
    .
     
    Zuletzt bearbeitet: 21.Juni.2020
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  3. JES

    JES Gehört zum Inventar

    @bebob99

    Nimm den Satz mit dem sich auf sein gehör verlassen nicht absolut. Bei dir kommt da unbewusst ein ausschließlich mit dazu.
    Wenn ich mich ausschließlich nur auf meine Augen verlasse, passieren mehrere Dinge
    1. Ich beraube mich meiner 4 übrigen Sinne, die mir teilweise aber bei der Musik helfen. Hören und Fühlen.
    2. Nur uber meine Augen kann ich zwar Noten und notefolgen identifizieren, aber nicht spielen. Das klingt als wenn ich Worte buchstabiere ohne das wort selbst zu verstehen. Nachgewiesen ist aber, dass menschen lesen indem sie worte erkennen. Sie erkennen daher auch worte als richtig, die eigentlich falsch geschrieben sind.
    3. Auch du wirst hören, wenn du einen ton falsch spielst. Sicher nicht gleich, ob er richtig intoniert, vielleicht auch nicht, ob zu lang oder kurz, aber F statt Fiss hörst du. Sonst wärst du nicht in der Lage zu musizieren.
    Fasse ich die 3 punkte mal zusammen, dann ist da viel Gehör bei und wenig Auge. Damit behaupte ich, kann man musizieren, ohne wird es schwer.
    Nun gibt es Menschen, die haben das Talent Dinge zu lernen, mehr in die eine oder andere Richtung ausgeprägt. Der eine lernt Bilder, der andere Klänge, der dritte lernt gar nicht sonder muss Zusammenhänge verstehen usw. Sicher auch Mischformen.
    Meine Erfahrung ist nun, dass viele Menschen in ihren Methoden sehr festgefahren sind. Sie halten an dem fest, was sie mal gelernt haben ohne zu versuchen, mal etwas zu tun, was sie so nicht gelernt haben. Sie verlassen ihre komfortzone nicht.
    Bei dir klingt es so, dass du zwar eine Verbindung aufgebaut hast, notenbild zu fingerstellung auf dem Instrument, aber keine Verbindung gehörter ton zu fingerstellung. Warum ist egal.
    Was ich jetzt aber nicht nachvollziehen kann ist, dass du zwar scheinbar Melodien nachspielen kannst, oder zumindest teilweise, trotzdem aber behauptest du brauchst unbedingt Noten. Ist es nicht eher so, dass du grundsätzlich auch ohne Noten spielen könntest, es für dich nur einfacher ist nach Noten zu spielen? Deine komfortzone ist das blatt?
     
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  4. saxsten

    saxsten Ist fast schon zuhause hier

    Hallo @bebob99 ,
    ich verstehe, was Du meinst und bin ganz bei Dir.

    Und doch ist daran etwas dran, wenn gemeint war, dass Jeder innerhalb seiner Möglichkeiten fast alles lernen (verbessern) kann!
    Will sagen einer ist nach 10.000 Übestunden ein gefeierter Virtuose, ein anderer schon nach 2.000 und ein Dritter freut sich nach Jahren, dass seine Freunde wohlwollend sagen "Du spielst ganz gut!"
    Das ist wohl von den individuellen körperlichen und mentalen Fähigkeiten abhängig, da bin ich voll bei Dir.

    Was aber in den anderen Thema gemeint sein könnte, dass sich möglw. jeder verbessern kann, wenn er es nur wirklich will und dafür trainiert.
    Verbessern! - nicht Profi werden!
    Das könnte der Unterschied sein!

    Prinzipiell kann JEDER Japanisch lernen!
    Bei dem einen reichts nach 5 Jahren mit gleicher Anstrengung nur zum "Guten Tag, wie geht es Ihnen" und ein anderer kann simultan übersetzen.
    Und genau das sollte man nicht gegeneinander bewerten!
    Das kann verletzend werden!

    Ich selbst, übe/trainiere jetzt seit fast einem Jahr und bin glücklich über das was ich schon kann.
    Auf die Bühne werde ich es nicht mehr schaffen (bin Dein Alter) und es stehen mir auch andere mentale Dinge dafür im Wege.
    Aber innerhalb meiner Möglichkeiten … bin ich ganz zufrieden mit meinen Fortschritten.

    Nix für ungut! - Kopf hoch, lass uns weiter üben und Spaß haben!
    VG
    Steffen
     
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  5. TSax80

    TSax80 Ist fast schon zuhause hier

    Ich sehe das gar nicht so philosophisch. Wer Freude an Musik hat und musizieren möchte, ist auch musikalisch.
    Unterschiedlich schwierig fällt uns die Verbindung zwischen Musik im Kopf und dem Umsetzen am Instrument. Meistens ist da nicht die Melodik, sondern die Rhythmik das Problem, ist auch mein Schwachpunkt. Timing ist eh nicht die Stärke der Bläser, Brecker z.B. hat auch Schlagzeug geübt. Rhythmus übe ich ganz schlicht mit dem Metronom. Der Click läuft bei mir immer, auch bei longtones und Intervallübungen. Hat auch was von Meditation (wenn ich mich über mich selber ärgere); Metronom auf 60, dreieinhalb Takte den Ton halten, einen halben Takt atmen, das macht knapp 4 Atemzüge pro Minute. Oooohhhmmm...
     
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  6. Zappalein R.I.P.

    Zappalein R.I.P. Guest

    schreibe ich:

    (ich,du) man soll die eine, wie auch die andere seite verstehen,

    oder

    (ich,du) man versteht die eine, wie die andere seite

    und schon ist das problem da. besonders hier** im forum. und da viele von euch nunmal das letzte wort haben wollen... ich spreche da aus erfahrung. hehe.

    klar, man will verstanden werden, gibt den guten ratschlag und peng, der tsunami ist losgetreten. besonders, wenn nach der zweiten antwort, der beitrag entgleitet.
    jaja ich weiss, das passiert in einem forum, soll sogar passieren sagen manche, denn es belebt. wieder zwei denke.

    schade dabei ist nur, dass sich dann einige, die (wirklich) was zu sagen haben und vllt. auch "anders" sind zurückziehen. warum muss einer angegangen werden, nur weil er, ich sach mal, blumig virtuos mit der deutscher sprache umgeht, oder wirklich zu allem was im techn. und spielerichem saxbereich passiert, etwas zu sagen hat.

    zum threadtitel. jein. yin und yang. black and white. dick und doof. fufu und free. e+u. experte und anfänger. grossmaul und zuzückhaltender.
    usw usw..... ich zitiere nochmals meine oma: "sue jenau kann man kin luus in de wutt kieke"

    in diesem sinne, vetragt euch.


    **es würde sich einiges relativieren, gäbe man öfters der argumentation per pn eine chance.

    ps.
    ich kann auch schlecht auswendigspielen. habe es versucht und versuche es immer wieder. manchmal gehts manchmal nicht. trotzdem ist aus mir was geworden.;);)
     
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  7. Jacqueline

    Jacqueline Strebt nach Höherem

    Kann ich auch nicht.
    Ich lese hier ja schon lange mit und kenne deine Beiträge, bzw ein paar Aussagen.

    Liege ich damit richtig, dass du im Musikverein spielst? Hast du grundlegenden Musikunterricht gehabt? (das weiß ich nicht)

    Ich kann auch keine Melodie aus dem Radio nachspielen.
    Zudem kann ich eine Melodie nichtmal richtig nachpfeifen (weil ich nicht pfeifen kann) ...:D

    Aber ich kann kurze Phrasen (wenn das Tonmaterial vorher festgelegt wurde) nachspielen. Und das kann man trainieren. Das ist Gedächtnistraining. Irgendwann wird man besser.
    Ich glaube das ist einfach ein Hirnareal was erstmal trainiert werden muss.
    Bis dato habe ich auch gedacht ich kann das nicht.
    Will sagen: vllt liegt es bei dir auch an etwas anderem und nicht an dir.

    Ich glaub hier ist durch die Bandbreite alles vertreten.
     
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  8. last

    last Strebt nach Höherem

    @bebob99

    Einer der besten Beiträge, die ich hier je gelesen habe.
    Ich hab nur den Eindruck, dass einige, die hier antworten, ihn doch nicht ganz verstanden haben (das ist nicht abfällig gemeint).

    LG

    last
     
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  9. Jacqueline

    Jacqueline Strebt nach Höherem

    Ich weiß es nicht, ob ich es richtig verstanden habe. Wahrscheinlich nicht.
    Kannst du bitte helfen?
     
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  10. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Mich würde interessieren, was genau Du nicht auswendig spielen kannst.
    Das Glazunov-Konzert oder eine A-Moll-Melodisch Tonleiter?
     
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  11. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Ich würde eher sage, ich kann Melodien nachpfeifen. Ich habe gestern "Einzug der Gäste auf Wartburg" aus "Tannhäuser" für's Herbstkonzert geübt. 2x langsam und dann die 6 Takte Triolen am Anfang noch einmal eine ganze Stunde extra. Die gemütlichen Teile kann ich halbwegs vom Blatt spielen. Die Triolen verknoten mir die Finger. Ich habe die gefühlt halbe Nacht Tannhäuser im Kopf auf und ab "gehört" und kann das problemlos mit pfeifen, wenn ich das Stück abspiele. Man sollte meinen, das habe ich verinnerlicht.

    Wenn ich aber irgend ein Teil davon "einfach nur spielen" will kommt entweder gar nichts, oder irgend ein Kauderwelsch heraus, der sich eher nach Stockhausen anhört. Es wird auch nicht besser, wenn ich nach Noten beginnne und dann die Augen zu mache um nur nach Gehör weiter zu spielen. Ich WEISS was kommen müsste und ich HÖRE natürlich dass es falsch ist. Aber wenn ich nicht SEHE dass die Phrase mit c" startet, die nächste mit h' und die darauf mit g' greife ich stattdessen "irgendwas" und komme anschließend auch nicht mehr rein. Es ist dann auch nicht so, dass ich nur versuche die Töne in der "falschen" Tonart zu spielen und mich eigentlich nur akustisch wieder synchronisieren müsste. Und DAS liegt wahrscheinlich wieder daran, dass die gleiche Phrase in unterschiedlichen Tonarten völlig verschiedene Griffe benötigt, sie in meinem Gehirn also überhaupt nichts gemeinsam haben. Genauso gut könnte ich versuchen Passwort Listen auswendig zu lernen.

    Ich bin ein, wie man früher sagte, "Computer Freak". Ich habe keine Probleme damit, Aufgaben in Algorithmen umzusetzen oder Schwachstellen aufgrund von impliziten Annahmen in vorhandenen Codes zu erkennen, wenn ich nur hin sehe. Das ist eine Gabe die MIR gut liegt. Ich kann mich auch sehr gut selbst betrachten und erkennen, was wie in meinem "Prozessor" passiert oder nicht. Ich weiß nicht, ob das Bild für nicht Computer Leute verständlich ist, aber für meine Spielfähigkeit ist ein Musikstück das etwa so wie ein verschlüsselter Text. Jeder Takt, jede Phrase benötigt einen bestimten, aber unterschiedlichen Algorithmus zur Entschlüsselung. Die Noten geben mir das jeweils nötige "Passwort" um ein weiteres Stück zu dekodieren - sobald es einmal halbwegs gelernt wurde. Verliere ich unterwegs die Information, welcher "Algorithmus" gerade dran ist, oder habe ich das falsche "Passwort" für den nächsten Teil nicht parat, kommt nicht die Phrase in einer anderen Tonart heraus, sondern nur "Zufallszahlen".

    Klar, es wird im Lauf der Jahre immer noch besser und ich habe auch den Biss, das weiter durch zu ziehen. Ich freue mich an jedem noch so kleinen Fortschritt.

    Ich musste natürlich für die Musik Prüfungen einseitige Stücke auswendig vortragen. An den drei Stücken habe ich 6 Monate geübt bis ich sie so weit drauf hatte, dass ich hoffen konnte, ohne große Fehler da durch zu kommen. Aber es war wie Telefonbuch auswendig lernen. Wenn ich kurz darüber nachdenke, habe ich sofort die Melodie im Kopf. Ich habe vor etwa vier Wochen wieder einmal versucht das zu spielen - es war genauso schwer wie vor der Prüfung. Mit Noten im Schneckentempo und Fehlern, ohne Noten - null. Gut, das war schon schwerer als "Hänschen klein", aber es zeigt doch, dass mein "Auswendig lernen" nicht nachhaltig ist.

    Ich fühle mich wie ein Jongleur. Manchmal kann ich drei Bälle in der Luft halten, manchmal vier und wenn ich lange genug übe auch mal fünf. Wenn die runter fallen, fange ich von vorne an.

    Ich habe nicht den Eindruck, dass ich eine Komfortzone hätte, aber mit Blatt habe ich deutlich bessere Ergebnisse. Mit all den Nachteilen die das eben mit sich bringt. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren was die anderen spielen und wie, ich habe Probleme mein Spiel mit den Anforderungen des Dirigenten zu synchronisieren und kaum freie Kapazitäten für Ausdruck und Intonation. Ich bin also nach 10+ Jahren immer noch am "Arbeiten" und nicht am "Musizieren". Ich arbeite jetzt natürlich schneller und besser als vor 10 Jahren.

    Eigentlich erstaunlich, dass mich das trotzdem entspannen kann, wenn ich mich abends eine Stunde oder manchmal auch zwei hin setze und versuche das Rätsel vor mir zu knacken.

    Ja ich spiele seit 2009 im Musikverein. 2. Alt-Sax im sinfonischen Blasorchester. Mittlerweile fürchte ich mich nicht mehr vor den Noten und weiß dass ich das Meiste inenrhalb der 3-4 Monate Vorbereitungszeit so hin bekomme, dass ich nicht die ganze Vorstellung torpediere. Schnellere Passagen mit Triolen und 16tel, mit wechselnden Versetzungszeichen und/oder größeren Sprüngen kann ich nur ansetzen und hoffen, oder auslassen, besonders wenn es über mehrere Takte oder gar Zeilen geht. Bei den irischen Stücken die wir ein paar Mal gespielt haben hatte ich allerdings echte Panik, es nicht zu schaffen, denn da konnte ich nicht einfach aussetzen, wenn eine ganze Seite zweistimmig mit Alt-Sax Führung zu spielen ist. Ging dann aber doch und der Adrenalin Schub war bemerkenswert. :eek:

    Ich hatte im Vorschulalter den üblichen Blockflöten Unterricht. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich den gehasst habe. Hätte ich damals nur besser aufgepasst... Mit 44 dann erstmals wieder ein Musikinstrument in den Händen und da war natürlich die "leichte" Zeit lange vorbei und das Gehirn und die Finger Koordination anderweitig geprägt. Ich habe Theorie in der Musikschule nachgeholt und Unterricht beim Lehrer. Technisch habe ich die "zweite Übertritts Prüfung und das Musiker Leistungsabzeichen in Silber" erworben. Ich sage mal, man hat es mir als Ansporn für zukünftige Leistungen freundlicherweise überlassen. Ich bin nicht überzeugt, dass ich es wirklich verdient habe. Es entspricht nicht meinem "Niveau", eher dem was ich unter entsprechendem Aufwand maximal imstande bin kurzfristig zu bringen.

    Sprache ist schwer. Ich neige auch immer dazu weit auszuholen und nicht immer sind die Bilder die ich verwende so verständlich wie ich hoffe. Ich habe trotzdem den Eindruck dass in der Langfassung meines Beitrags mehr rüber gekommen ist als in meiner ursprünglich kurzen Fassung in der anderen Diskussion.

    Es ist der (wahrscheinlich) absolutistische Unterton in so einfachen Sätzen, der für mich wie ein Totschlag Argument wirkt. Alle individuellen Stärken und schwächen werden ignoriert und man ist entweder "alle" oder "Idiot". Ich versuche das wenn möglich zu vermeiden, besonders auf Gebieten wo ICH gut bin und erkenne wie sich andere bei "total einfachen" Sachen furchtbar schwer tun.

    Ich bin auch überzeugt, dass selbst der beste Lehrer, der in 40 Jahren hunderte Schüller aller Niveaus gehabt hat, die "es alle gelernt haben" gemeint haben muss, dass "das" natürlich auf sehr unterschiedlichem Niveau erlernbar war. Auf einer Skala von 0 bis Hundert waren vielleicht wenige bei 100, viele im Mittelfeld und etliche vielleicht nur bei 10. Insofern haben sie "es" alle gelernt. Nur die Floskel lässt davon nichts mehr übrig und vermittelt eher den Eindruck, alle würden das mit vergleichbarem Aufwand auf das gleiche Niveau schaffen, "wenn sie nur auf ihr Gehör vertrauen", also der Natur einfach eine Chance geben "es" zu machen.
     
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  12. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Tatsächlich hakt es schon an der A-Moll melodisch. Ich kann die natürlich aufschreiben. Soviel Theorie kann ich. Und wenn ich die ein paar mal lesend spiele, kann ich sie auch auswendig spielen. Und morgen muss ich sie mir wieder aus den Noten heraus lesen, die für mich eben eine beliebige Folge von Noten sind und nicht "Ah, Melodisch Moll - das kann ich schon".
    Und ich kann das auch mit allen anderen Tonleitern in der gleichen Art. Solange ich die Bälle in der Luft habe, geht es. Nur bleiben sie da leider nicht.

    Die erste Seite vom Glazunov Konzert geht übrigens auch so halbwegs, wenn ich mich an Ankerpunkten orientieren kann und ich das einen ganzen Nachmittag übe, womit es im Arbeitsgedächtnis ist, also der oben erwähnte "6-Bälle Modus".
     
  13. ppue

    ppue Experte

    Ich verstehe, dass solche mal eben lax daher gesagten Weisheiten wie "das kann jeder" einen runter holen können.

    Ich vermute aber auch, das dir, @bebob99, bisher keiner eine Methode gezeigt hat, wie man es lernt, Töne zu hören und diese recht sicher auf dem Instrument nachzuspielen. "Einfach nur hören" ist der unsinnigere der beiden Weisheiten, denn durch einfaches Hören verbindet sich nicht ein Klang mit dem Fingergedächtnis.
    Ich glaube auch, dass es jeder kann, vergesse aber nicht, dass ich als Kind einen Klarinettenlehrer hatte, der das acht Jahre lang mit mir geübt hat. Damit relativiert sich das "es kann jeder" etwas, weil noch dran gehängt werden müsste: ", wenn er eine gute Anleitung hat und sich lange genug damit beschäftigt".
     
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  14. murofnohp

    murofnohp Ist fast schon zuhause hier

    @bebob99 Ich sehe da schon sehr viele Parallelen :cool:
     
  15. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Eventuell kann Dave Dir helfen, er kann Dir gerne mal eine Online Stunde geben. Er ist ebenfalls ein völliger Codebreaker und hat schon vielen Leuten helfen können, die ähnliche Probleme hatten. Das soll jetzt keine Schleichwerbung für Dave sein, er hat glücklicherweise reichlich zu tun, aber ich denke, er könnte wirklich helfen.
    Liebe Grüße,
    Juju
     
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  16. Bereckis

    Bereckis Gehört zum Inventar

    Ich finde, dass du bereits eine Menge in der Musik als „Späteinsteiger“ geschafft hast.

    Du wirst nie eine ganze Vorstellung torpedieren; denn dafür bist du vermutlich zu sensibel.

    Statt komplett schnelle Passagen auszulassen, kannst diese auch zur Not „vereinfachen“: Z.B. 8tel statt 16tel oder 4tel statt Triolen. Ich hatte immer wieder Passagen, die für mich lange live unspielbar waren.

    Das Leistungsabzeichen in Silber hast du verdient und nicht geschenkt bekommen. Das Leistungsabzeichen ist aber unwichtig. Wichtig ist dein persönlicher musikalischer Fortschritt und dass du im SBO dich behauptest.

    Weiterhin viel Erfolg und weniger Frust!
     
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  17. Turmgeist

    Turmgeist Nicht zu schüchtern zum Reden

    Der Meinung bin ich auch. Orchesterstellen, wie der von Dir oben zitierte Tannhäuser sind nicht grade prädestiniert zum Auswendiglernen. Auch ich spiel in einem SBO und kenn die Problematik nur zu gut.

    Das mit dem einfach nur hören und man kann es spielen: Da würde ich Dir mal einen kleinen Selbsttest vorschlagen: Suche Dir 2 kleine Gedichte und lerne sie auswendig. Das eine Gedicht sollte Dich berühren und Dir gefallen, mit dem anderen kannst Du inhaltlich nichts anfangen. Ich werde drauf wetten, dass Du das erstere der beiden schneller drauf hast und auch behalten wirst, weil Du Dich damit identifizieren kannst.

    So ist es auch wohl teilweise in der Musik. Melodien, die mir tatsächlich gefallen, bleiben kleben, die andren habe ich mühsam gelernt und sind dann genauso schnell auch wieder weg.

    Und da gibt es logischerweise die unterschiedlichen Typen von Menschen. Meinem Sohn und mir fällt Auswendiglernen und Behalten unheimlich schwer. Meine Tochter macht es einfach mal eben so und wir anderen gucken blöd in die Röhre, sh... happens.
    LG
    Turmgeist
     
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  18. Florentin

    Florentin Strebt nach Höherem

    Das wünsche ich natürlich auch. Ich denke aber, dass @bebob99 realistischerweise recht zufrieden ist mit dem, was er erreicht hat und kann. Andere Fähigkeiten will er vielleicht gar nicht lernen.

    Das Thema dieses Threads ist mMn ein anderes: Jeder sollte sich zurückhalten mit Statements wie "das ist doch ganz einfach, das kann jeder lernen, das schaffst Du auch!" Und das sehe ich ganz genauso.

    Da spielt wieder das böse Wort "Begabung" rein.

    Wer für eine Sache (nicht nur Musik) sehr begabt ist, der lernt sie ganz schnell und ohne Probleme - oder kann sie sogar ganz spontan. Und kann sich gar nicht vorstellen, dass es andere nicht auch sofort oder schnell können. Dann ist es aber grundfalsch und extrem frustrierend, öffentlich zu behaupten "das kann doch nun wirklich jeder (lernen)".

    Oder, etwas abgewandelt: wenn bei mir eine bestimmte Lernmethode funktioniert hat, dann muss das noch lange nicht die Lösung für andere sein.
     
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  19. Wanze

    Wanze Strebt nach Höherem

    In Diskussionsforen wie in Partner-Diskussionen sollte man die Begriffe "alle", "keiner", "jeder", "niemand", "immer" und "nie" vermeiden. Führt nur zu Ärger.
    Und ja, oft werden so Pauschalweisheiten geäussert, wie "was man singen kann, kann man auch spielen" oder (meine Lieblingsphrase) "was man langsam spielen kann, kann man auch schnell spielen". Bullshit.
    Pseudoweisheiten, die einer dem anderen nachplappert. Das sagt nichts über Dich, sondern über den, der sowas in die Welt setzt.
    Einfach abperlen lassen!

    Grüße,

    Wanze
     
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  20. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Doch, das stimmt IMHO schon.
    Zumindestens ist die größere Hürde, in sehr langsamem Tempo perfekt zu spielen. Die Geschwindigkeit selbst ist kaum das Problem.
    (Wenn es jetzt nicht grad um Staccato in irrem Tempo geht).
     
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