Das Hirn auf Improvisation

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Mugger, 8.November.2015.

  1. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Das meine ich nicht. Ich erarbeite mir auch Tonmaterial in Vorbereitung auf Improvisationen, spiele Basslinien, Arpeggios, Skalen, suche Leittöne und versuche das harmonische Konstrukt zu begreifen und die Form zu verinnerlichen. Ich habe aber oft den Eindruck, dass manche (meist wohl Improvisationsneulinge) aus einer improvisatorischen Unsicherheit heraus das Bedürfnis entwickeln, mehr Tonmaterial und zunehmend komplexeres Tonmaterial einzuüben, weil sie denken, dass am Ende einer schier endlosen Fleißarbeit eine geniale Improvisationsfähigkeit stehen wird. Und das halte ich für einen Holzweg - nicht komplett, die Fingerfertigkeit der vielen Skalen wird sich irgendwo auszahlen, aber es macht nicht die Improvisation zur Improvisation.
     
  2. ppue

    ppue Mod Experte

    @JazzPlayer

    Erfahrung ist eben nicht Kontrolle, sondern Freiheit.

    Man stelle sich einen Fahrschüler vor. Was der für einen Stress hat, auf alles zu achten. Dann nehme man einen langjährigen Taxifahrer, der dich blind durch die Stadt fährt und dir dabei die Hucke volllabern kann. Der kontrolliert ja nicht ständig oder mehr. Er fährt intuitiv die richtige Strecke, weiß die Besonderheiten, Geschwingigkeitsbeschränkungen, Vorfahrten, Unübersichtlichkeiten, den schnellsten Weg je nach Verkehr und Uhrzeit etc. und ist nicht aus der Ruhe zu bringen, auch wenn etwas Ungewohntes die Routine stört.

    @giuseppe

    Dann will ich nichts gesagt haben. Nein, die Vorbereitung läuft natürlich immer ganz nah am jeweiligen Stück.
     
    Bereckis und saxhornet gefällt das.
  3. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Vielleicht geht es doch nicht um allgemeine Enthemmung, sondern gezielte Enthemmung. Man erlebt ja immer wieder mal Anfänger, die einen bewegen und Profis die einen langweilen. Das könnte ein Resultat zu schwacher oder zu starker Kontrolle sein. Im Idealfall freilich ist der Profi technisch versiert und genial zu gleich, dann nennt man das virtuos, glaub ich. :)
     
  4. Rick

    Rick Experte

    Tun sie das denn?
    Wir BEZEICHNEN zwar manches als "anfängerhaft". doch damit ist meiner Meinung nach eher die Unsicherheit gemeint, die da meistens durchscheint.
    Ich habe schon Anfänger erlebt, die improvisatorisch gleich selbstbewusst loströten, da war dann der Unterschied eher marginal.
    Umgekehrt kenne ich Leute, die auch nach Jahrzehnten immer noch wenig überzeugend klingen, die zwar unglaublich viel WISSEN angehäuft haben, aber in der Umsetzung scheitern.

    UND dann sind da noch die Musiker, die nach Abschluss ihres Jazz-Studiums schlechter spielen als vorher, weil sie nun ängstlich geworden sind, etwas Falsches zu spielen, sozusagen "sensibilisiert", wo sie früher unbekümmert drauflos improvisiert haben. :roll:

    Schönen Gruß,
    Rick
     
    Bereckis, zwar und Gelöschte 11056 gefällt das.
  5. Mugger

    Mugger Guest

    Warne Marsh hat mal einen Gitarristen, einen improvisierenden Schüler, mit den Worten: "I can hear you thinking" gestoppt

    Und das meine ich:
    Die Freiheit der echten Improvisation ( die schwer erarbeitet werden muss) ist es eben, nicht Skalen und Leittöne und Tensions zu denken.
    Ich denke, dass es um diese Art der Improvisation (siehe Jarrett) geht.
    Die Fähigkeit, unfallfrei und ohne "falsche" Töne über einen Standard zu kommen, das Leadsheet betrachtend oder auch nicht, ist für mich eine andere.
    Hört Euch bitte nochmal das Mark Turner Solo über All the things you are an, dann versteht Ihr, was ich meine.

    Cheers
     
    Bereckis und The Z gefällt das.
  6. Rick

    Rick Experte

    Hallo Guenne,

    wieso muss denn diese "echte" Improvisation unbedingt schwer erarbeitet werden?
    Wenn ich mal von mir selbst und meinen Wegbegleitern ausgehe, so würde ich ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass wir als nichtsahnende Jugendliche teilweise echt geniale Sachen gespielt haben, ohne natürlich auch nur ansatzweise zu verstehen, was wir da machten.

    Später habe ich dann ganz viel gelernt und wurde in mancher Beziehung innerlich immer gehemmter - nicht weil ich denken musste, sondern weil ich einfach durch meine Umgebung zunehmend verunsichert wurde, was denn nun "richtig" oder "falsch" sei.
    Erst nach Jahren habe ich gelernt, mich von diesen Hemmungen zu lösen und wieder frei von der Leber weg zu spielen, auch wenn man dies aus dem einen oder anderen Grund vielleicht kritisieren konnte - wichtig war es vor allem, diese "Schere im Kopf" zu entfernen.
    Natürlich habe ich heute viel mehr Erfahrung, Routine und ein wesentlich größeres Repertoire an Möglichkeiten, aber die damalige Unbekümmertheit war so schlecht nicht und auch aus meiner heutigen Sicht (es gibt noch alte Aufnahmen) durchaus "echte" Improvisation.

    Schönen Gruß,
    Rick
     
  7. chrisdos

    chrisdos Strebt nach Höherem

    Ich denke in der Musik gibt es ganz viele Lernpfade. Das betrifft z.B. auch Blattspielen vs. Auswendigspielen. Ein auswendig gelerntes Stück ist in den Fingern oder wo auch immer abgespeichert. Die Noten musst du nach dem 100. Mal immer noch lesen.
    Beim Improvisieren gibt es auch verschiedene Methoden. Manche schauen dabei in die changes. Ich weiß nicht was sie da heraus lesen, ob das Akkordsymbol mit einem arpeggio, einem lick oder einer skala verknüpft wird. Andere haben die Informationen auswendig gelernt, denken aber noch daran. Wieder andere haben so intensiv mit dem Material gearbeitet, dass sie das Stück in den Fingern haben und damit frei spielen können. Und schließlich die intuitiven Spieler, die natürlich auch viel mit einem Song arbeiten müssen, aber halt anders. Das wäre jetzt so eine grobe Einteilung nach dem was ich kenne. Und mir scheint es naheliegend, dass auch bei diesen Beispielen andere Bereiche des Gehirns aktiv sind, auch wenn es sich immer um Improvisationen handelt.
     
  8. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    @chrisdos: Alle schauen auf die Changes, sofern sie diese nicht auswendig können, was meiner Meinung nach auch eine bessere Improvisation fördert. Aus dem Akkordsymbol folgen eine oder mehrere Skalen. Ich kenne niemanden, der anders vorgeht.
     
  9. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Gerade beim musikalischen und didaktischen Konzept von Marsh und seinem Lehrer Tristano geht es sehr viel darum, sich das musikalische Material nicht intellektuell und mechanisch draufzuschaffen. Zuallererst muss die Musik im Kopf sein bevor man sie aufs Instrument überträgt, das gilt für alles: Tonleiter, Akkorde, Soli zum Nachsingen... Und ja, da stimme ich Mugger auch zu, das ist Arbeit. Arbeit die dazu dient, den Intellekt (I can hear you thinking...) auszuschalten und sich vollkommen auf Intuition, das innere Ohr und sein Feeling (bei Tristano ein großer Gegensatz zu Emotionalität) zu verlassen. Wenn man diesen Weg geht, kommt es erst gar nicht zur Schere im Kopf.
     
    Mugger gefällt das.
  10. deraltemann

    deraltemann Strebt nach Höherem

    Zunächst wie so ist die Sprache eine Kindes nicht so Wort gewaltig wie die eines Profiretorikers?
    Und natürlich gehören Erfahrung Wiederholungen und Wahrnehmng tragend dazu. Und das immer die Impro ein Profis besser ist, als die manches Anfängers ist mit Verlaub kein Gesetz aber wahrscheinlich.

    Das Gehirn hat für bestimmte Aktionen bestimmte Areale. Das ist nix neues.
    Aber wieso ist man jetzt erstaunt? Was freilich nur Statisch ermittelt weden kann ist welchen Areale welche
    Aufgaben hat. Aber umgekehrt ist der Schluss nicht zulässig.
     
  11. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ich schon. Zum einen würde ich sagen, mein Ziel beim Blick auf die Chances ist weniger die Skala zu wissen, als den Akkord vor dem inneren ohr zu hören. Ich kann das nur ein bisschen, abhängig auch von Tonart und Komplexität, ist ber letztlich ne übungsfrage, wie noten singen. Zum anderen kenne ich einige gute Musiker, denen die notierten Chances egal scheinen, die einfach nur hören. Vielleicht eine Frage des persönlichen Repertoires, vielleicht haben die vieles auswendig gespeichert, keine Ahnung.
     
    Mugger gefällt das.
  12. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    @giuseppe: Von einem Akkord, i.d.R. Vierklang, ist es dann zur Tonleiter auch nicht mehr so weit, das Grundgerüst ist jedenfalls vorhanden. Und klar, erfahrene Musiker brauchen manchmal nur eine Ansage bezüglich der Tonart, wenn man die vorkommenden Kadenzen kennt bzw. raushört.
     
  13. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Diese ganze "Mathematik" ist zwar ein Teil des Grundgerüstes unserer Musik, aber auch nur die halbe Wahrheit. Sollte man verstehen, erhören, fühlen und dann schlußendlich vergessen und einfach Musik machen. Improvisieren ist mehr als Malen nach Zahlen.
     
  14. ppue

    ppue Mod Experte

    Dazu braucht es aber ein geschultes Auge für Stimmungen, Farben, Formen und einen eigenen Stil. Da haben die bildenden Künstler es genau so schwer wie wir Musiker. Und sie setzen sich genau so lange wie wir mit ihrem Metier auseinander. Auch da sind die Wege höchst unterschiedlich.

    Das macht wenig Sinn, sich hier über die Methodik zu streiten. Zum Glück gibt es viele Wege und damit auch die unterschiedlichsten Ergebnisse. Gäbe es den einen goldenen Weg, dann wäre Musik schnell totlangweilig.
     
    bluefrog gefällt das.
  15. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Das habe ich in einem vorigen Post auch geschrieben, dass es da einiges zu Erarbeiten gibt, klar.

    Da Mugger ein Video über die Hirnaktivitäten beim Improvisieren gepostet hat: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es große Unterschiede gibt, ob ich mir entweder denke: Huch, Takt 6, A7, Mixo, Alteriert, HM5 oder Halbganz, oder doch die Akkordtöne, möglicherweise die Melodie zitieren, wie geht die nochmal, aber da gabs doch noch diesen Hip Lick vom Fishman, Mist, jetzt sind wir schon im Takt 7 (ja, das war jetzt möglicherweise übertrieben)... oder ich denke mir nichts, spüre wo ich bin, reagiere auf den Sound den ich gemeinsam mit meinen Bandkollegen mache, höre den nächsten Sound und meine nächsten Töne voraus. Das eine ist "Malen nach Zahlen" das andere "Zen und die Kunst des Saxophonspielens".
     
    Rick gefällt das.
  16. Mugger

    Mugger Guest

    Warum?
    Es spielt ja das Individuum.

    Danke @The Z, das ist kondensiert etwa das, worum es geht.
    Der Weg dorthin inkludiert (für mich persönlich) auch Beschäftigung mit der Theorie.

    Cheers, Guenne
     
  17. visir

    visir Gehört zum Inventar

    Niemand ist erstaunt, schon gar nicht darüber, dass das Hirn verschiedene Areale hat. Es ging darum, welche Areale wie aktiviert oder deaktiviert sind, bei Improvisation im Vergleich zum Spielen nach Noten. Und das weiß man jetzt besser als vorher.
    Was Du da mit "statistisch" meinst, verstehe ich nicht.
     
  18. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Also schonmal ganz praktisch denke ich relativ wenig über Skalen, sondern eher über Akkordbezüge der Töne, zB. Optionstöne, die dann zusammengebaut werden, dabei "Skalen" und Tonzusammenstellungen ergeben können, die es eigentlich nicht gibt.
    Also über einen G7 oder G9 könnte zB so eine Linie laufen g2, a2, h2, c3, d3, f3, g3, ab3, f3, a2, e3---
    Und das ist noch ein ganz harmloses Beispiel. Das Ab kann als spannungston auch über g9 (also mit None a) laufen.

    An der Stelle mit dem Ab jetzt eine neue Skala zu denken, alteriert oder Mixob9 ist nicht sinnvoll. Skalen sind in der Praxis oft zu grosse Blöcke. Optionstöne sind geschmeidiger einbaubar.

    ----------------

    Ähnlich kann man übrigens auch Skalen üben, über das Zusammenstellen von Optionen. ZB Skalen immer nur bis bzw ab der 5 spielen:
    C2, d,e,f,g, c3, chromatisch verschieben
    Db, eb, f, gb, ab usw

    Nächste Übung
    C, g, a, bb, c, chromatisch verschieben

    Nächste Übungen, immer chromatisch verschieben
    C, d, eb, f, g,
    --
    c, db, eb, f, g
    --
    c, db, e, f, g
    --
    c, gb, ab, bb, c
    --
    c, g, ab, bb, c
    --
    c, g, ab, h, c

    usw usw. Die Zahl der möglichen Töne innerhalb der halbierten Oktave ist relativ klein. Das zu sichtende Material reduziert sich dadurch auf relativ wenige Varianten (geschätzt unter 10), die dann zusammengeschoben werden und zB ganz skalen ergeben, und zwar alle rechnerischen skalenmöglichkeiten. Unterm strich ist das wesentlich weniger arbeit als das Üben aller Skalen als Ganzes, wobei man immer auch Bereiche mitübt, die man eigentlich schon kann, und sich gleichzeitig auf zu grosse Blöcke, sprich ganze skalen konditioniert, s. eingangsbeispiel.

    Zur weiteren Stärkung der Bewusstheit runde man das mit Pentatoniken und verkürzten skalen aller art ab, um den Bruch bei der 5 mit dieser Methode auszugleichen.
    Immer chromatisch verschieben, ein paar willkürliche Beispiele:
    c, eb, e, g, h, c
    --
    d, eb, g, bb
    --
    usw usw

    Bei all diesen Übungen immer die Grundtonbezüge klar machen, also zB d, eb, g, bb ist 2, b3, 5, 7 (die 7 ist ja ohne weitere Bezeichnung immer klein).

    durch diese Übungen kommt recht schnell die automatisierte Fähigkeit der schnellen Verfügbarkeit von skalen aller art.
    Was noch nicht Musik ist, aber eine gute Hilfe zur automatisierten, rechnerisch richtigen Skalenerstellung.
    -------------------

    Ist wahrscheinlich etwas offtopic. Eigentlich wollte ich ja was zum denken beim spielen schreiben, ev später mehr, ich muß los.




    http://www.swing-jazz-berlin.de/weihnachtsmusik
     
  19. ppue

    ppue Mod Experte

    Warum Musik totlangweilig wird, wenn alle nach der einen optimierten Methode lernen, liegt auf der Hand: Die Art und Weise, wie und was ich übe, beeinflusst stark mein freies Spiel. Man würde sich stark angleichen, wenn alle das gleiche Material benutzen, in gleicher Art und Weise die gleichen Licks und die gleiche Art der Phrasierung erlernen würden.

    Zum Teil höre ich diese Nivellierung der Individualität ja jetzt schon. Und das, seit dem der Jazz Einzug in die Hochschulen hielt. Das System gebiert keine Monks oder Dolphys mehr. Das ist vorbei und passiert meines Erachtens eher in anderen musikalischen Bereichen.
     
  20. Mugger

    Mugger Guest

    Das ist eine eigene Diskussion IMHO, die nichts mit der Lernmethode zu tun hat.

    Das System kann nie Monks oder Dolphys gebären. Die sind einfach da. Und die sind auch heute noch da, nur interessiert es weniger, und die Möglichkeiten der Entwicklung dahin sind rarer.

    Cheers, Guenne
     
    deraltemann und ehopper1 gefällt das.
  1. Diese Seite verwendet Cookies, um Inhalte zu personalisieren, diese deiner Erfahrung anzupassen und dich nach der Registrierung angemeldet zu halten.
    Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies.
    Information ausblenden