Wie hat der Jazz sich entwickelt? Über probieren? Oder auch am „Reißbrett“?

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von Gelöschtes Mitglied 5328, 6.April.2019.

  1. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    In einem anderen Thread kam die Frage auf, ob Entwicklungen im Jazz nur aus musikalischen Experimenten entstanden sind....immer wieder Grenzen ausloten....

    Oder ob gegensätzlich vorgegangen wurde, also zunächst ein harmonietheoretisches Konstrukt am „Reißbrett“ erarbeitet wurde, um es DANACH musikalisch umzusetzen. (das war ein Einwurf von @mato )

    Und wenn es erst eine theoretische Erarbeitung gegeben hat, welchen nachhaltigen Einfluss hatte das im Jazz?

    Neugierige Grüße,

    Dreas
     
  2. ppue

    ppue Mod Experte

    Theoretische Erarbeitung trifft es nicht. Denn unter Garantie wurden die Arrangements der Swingära am Klavier gemacht, wurden die neuen Akkorde, die Alterierungen, Halbton-Ganzton-Leitern etc. des Bebop an den Instrumenten ausgeklügelt. Wo will man Theorie, Praxis, Kreativität, Zufall, Genialität und Zeitgeist auftrennen. Das wird so nicht funktionieren. Das ist wie beim alten Henne-Ei-Paradoxon.

    Was natürlich stimmt, ist, dass Komponisten und Musiker mehr zur Entwicklung der Musik beigetragen haben als die Musikwissenschaft, deren Aufgabe es eher ist, die Entwicklungen zu durchleuchten, zu dokumentieren und einzuordnen. Dennoch gibt es Komponisten und Musiker, die aufgrund von Theorien neue Systeme entwickeln.
     
  3. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Wie @mato schon im anderen Faden erwähnte: Die Ganztonskala und übermäßige Akkorde z.B. kamen von außen, hier also durch Beschäftigung mit den Franzosen, soviel ich weiß.
     
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  4. Rick

    Rick Experte

    Man darf auch nicht vergessen, dass der Jazz am erfolgreichsten und wichtigsten war, als er auch kommerziell ausgerichtet in der Gesellschaft stattfand, also "Pop-Musik" war.
    Er konnte sich da entwickeln, wo man ihm künstlerische Freiheit gestattete, ja, wo es sogar erwünscht war, dass er neue Wege fand, und wurde da gebremst oder gar erstickt, wo er sich an strengere Regeln und Vorgaben zu halten hatte.
    Und ist somit immer ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der er stattfindet: liberal oder limitiert, modern oder konservativ.

    Prinzipiell ist Kunst immer am erfolgreichsten sowie folgenreichsten, wo das künstlerische Angebot auf eine interessierte Nachfrage des Publikums trifft.
    Das waren für den Jazz anfangs die Akteure und Besucher des Rotlichtmilieus in New Orleans, später die Alkohol-Gewinnler in den Chicagoer Speakeasys während der Prohibition, dann die jungen Nachtschwärmer der Nightclubs und die Tänzer der Dance Halls in New York, zunehmend die intellektuellen Außenseiter in den Großstädten der USA sowie Europas, Studenten in Universitätsstädten wie Heidelberg usw.

    Einen Plan am Reißbrett entworfen sehe ich da nicht, sondern ganz viel ungehemmte Kreativität, Lebensfreude sowie "Try and Error" bis man das Publikum von einer neuen Richtung überzeugen konnte. Wie überall war auch im Jazz der Fortschritt selten selbstverständlich, es gab zu jeder Zeit Beharrungskräfte und Traditionalisten, die den neuartigen Sounds der jeweils nachfolgenden Generation nur wenig abgewinnen konnten.
    Benny Goodman wurde wegen seiner Idee einer swingenden Big-Band mit improvisierten Solos verlacht, Louis Armstrong fand bitterböse Worte gegen den Bebop, Charlie Parker fand sich zwischen Rhythm'n Blues und Cool Jazz nicht mehr zurecht, was wurde nicht alles über Free Jazz hergezogen, Latin Jazz war beliebt wie mexikanische Zuwanderer und Jazz-Rock ließ viele Leute erschrocken den Kopf schütteln und sich die Ohren zuhalten. Spätestens "Trip Hop" und "Acid Jazz" galten als der endgültige Untergang des Abendlandes... :rolleyes:
     
  5. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Das hast Du jetzt sehr nett gesagt.:)
     
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  6. TootSweet

    TootSweet Ist fast schon zuhause hier

    Ich vermute, im Jazz hinkt die Theorie meistens der Praxis hinterher. Die Theoretiker analysieren, was von innovativen Musikern gepielt wird.

    Aber letztlich lässt sich das (wie oben gesagt) nur schlecht auseinanderhalten. Beispiel George Russell: der hat sich sehr vertieft theoretisch mit der Musik befasst - seine Fragestellungen kamen wohl aus der Musik, die er selber schrieb und spielte, und seine Musik wiederum war von seiner Theorie beeinflusst
     
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  7. Rick

    Rick Experte

    Das ist richtig, auch ich habe sein Theoriewerk verschlungen und daraus für mich viele Inspirationen abgeleitet - allerdings war er als Musiker nie so erfolgreich wie als Lehrer, ich kam durch ihn musikalisch auf völlig andere Ideen als er und letztlich setzt sich nur das WIRKLICH durch, was auch den Leuten gefällt, sie irgendwie anspricht oder irgendwo abholt.

    Und diesbezüglich muss man sagen, dass es im Jazz immer ähnlich lief wie in der europäischen Konzertmusik: Wenn nicht gerade mächtige Förderer (Fürsten, Gönner, Promoter, Plattenfirmen, Kritiker...) dahinter stehen, wird sich etwas tatsächlich Neues, also auch von den meisten als "fremd" und "schräg" Empfundenes, kaum durchsetzen können.

    Bei Duke Ellington war es Irving Mills, der geschickte Agent, bei Benny Goodman, Count Basie, Billie Holiday und vielen weiteren Künstlern steckte der Konzertveranstalter John Hammond, ein reicher Industriellenerbe und Jazz-Fan, hinter dem Erfolg, manche anderen wie auch Lester Young und Charlie Parker wären kaum ohne Norman Grantz und seinen JATP-Zirkus tatsächlich überregional bekannter geworden (klar, die eingefleischten Fans kannten sie alle, aber die breitere Masse eben nicht).
    Wir hatten es doch kürzlich von Blue Note Records - auch sie machten etliche Musiker erst für ein größeres Publikum bekannt und erfolgreich.

    Die wenigsten Hörer kommen doch von selbst auf bahnbrechende Musiker, meistens muss man von ihnen irgendwo gehört oder gelesen haben, dass sie toll seien. Wer nicht im Radio oder Fernsehen präsent war oder von einflussreichen Kritikern gewürdigt wurde, hatte keine Chance, dass man seine neuartige Musik anhören, kaufen, sich dafür begeistern konnte.

    Heute ist das anders, da gibt es das Internet und "Suchmaschinenoptimierung", jeder kann sich an die Öffentlichkeit bringen - für den Preis, dass es im Jazz heute sehr viele einzelne Richtungen und Personalstile gibt, aber eben kaum einen richtigen Trend wie früher.
     
    Zuletzt bearbeitet: 6.April.2019
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  8. GelöschtesMitglied11578

    GelöschtesMitglied11578 Guest

    Interessant, dass es anscheinend beim lernen ganz gegensätzlich erscheint. Da wird Theorie bis zum wegrennen dem Publikum entgegengekotzt, damit dann irgendwann mal viel später aus den Studenten auch kreative Musiker werden ...

    Hmmm ?



    Auch wenn ich mir so manche zeitgenössischen Kompositionen anhöre bezweifle ich, dass da nicht etwas zu viel gedacht worden ist um dem Publikum nicht doch noch den letzten Irrweg harmonischer und struktureller Finesse aufs Trommelfell zu ballern.
    Von der Muse geküsst klingt da für mich zumindest eher wenig. Der musikalische Schmatzer scheint doch eher einen Zungenkuss von Conrad Zuse zu gleichen ...
     
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  9. Rick

    Rick Experte

    Aus Sicht des Lehrers: Harmonielehre kann man beibringen, Kreativität und eigene Ideen muss der Lernende hingegen selbst entwickeln. Manche sprudeln geradezu über davon, andere tun sich damit schwer. Auch ein Persönlichkeitsding, wo der Lehrer eher machtlos ist.

    Die Jazzstudenten, die ich in letzter Zeit kennengelernt habe, lernen an der Hochschule ganz viel Technik und Handwerk. Improvisatorisch tut sich hingegen nicht so viel bei ihnen, die entsprechenden Fähigkeiten müssen sie schon bei der Aufnahmeprüfung drauf haben, viele entwickeln sich danach nur noch marginal weiter.
    Und wenn man sich so anschaut, was das gemeine Publikum wirklich will, gebe ich dieser Ausbildung Recht: Technik zum Beeindrucken und ganz viel Bluestonleiter, um die Hörerwartungen zu erfüllen! :-D

    Nach meiner Beobachtung hat sich die Komplexität der musikalischen Sprache des Jazz in puncto Harmonik und Melodik während der letzten Jahrzehnte eher zurück entwickelt und dem Rock/Pop angeglichen, seit dem Höhepunkt des Fusion in den 1970er und 1980er Jahren.
    Mit solchen Klängen kann man heute die Mehrheit der Zuhörer eher verunsichern als begeistern.

    Das entspricht allerdings der globalen Kunstentwicklung seither, nach dem Motto: Die Moderne ist heute 50 Jahre in der Vergangenheit zu finden.
    Je komplexer, technisierter und scheinbar unübersichtlicher unsere Welt wird, desto stärker scheint man sich in der Kunst nach einfachen, vertrauten Strukturen zu sehnen...
     
    Zuletzt bearbeitet: 7.April.2019
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