Wo liegt da der Genuss?

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von nachbarschreck, 27.April.2019.

  1. Nilu

    Nilu Ist fast schon zuhause hier

    Ich genieße den Brecker, wie er gemeinsam mit den spielwütigen Zappa-Musikern 4 Minuten und 30 Sekunden einem Akkord beackert.
    Der Genuss liegt in der scheinbar unerschöpflichen Vielfalt und dem wohl bedachten Mix der Riffs.
    Die Spannungsbögen sind extrem, zerreißen mich förmlich.
    Außerdem bilden alle Musiker eine wunderbare Einheit. Tolle Kommunikation.
     
    Zuletzt bearbeitet: 27.April.2019
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  2. Thomas

    Thomas Strebt nach Höherem

    nein, wozu auch? Hauptsache geniessen :) Wieviele Autofahrer wissen denn im Detail, wie die Kiste funktioniert? Wieviele GPS-User können denn die Formeln der Relativitätstheorie runterbeten?
    da ich kein professioneller Komponist, Musiktheoretiker oder Improviseur bin, brauche ich mich imho mit sowas beim Musikhören auch nicht zu belasten :)
    Es gibt Sachen, die packen mich, andere nicht, das hängt nicht vom Namen sondern vom Stück und der Situation ab. Manchmal packt mich Dolphy trotz des imho oft schrecklichen Bassklarinettentons, Manchmal O. Coleman, manchmal find ich es furchtbar.
    Manchmal gehe ich bei Brecker in die Knie, manchmal empfinde ich es als schreckliches Technikgewürge. It depends
    Die Faszination kommt manchmal völlig unerwartet bei mir . Ob das eher Balladen sind oder eher äusserst virtuose Sachen.... es wirkt oder es wirkt halt nicht...

    Wichtig ist doch, dass die Musik mich berührt, fasziniert, mitreisst.... sonst kann ich auch drauf verzichten. Und sich dann was reinziehen mit Gewalt schönreden nur weil da jemand furchtbar toll und tiefsinnig improvisiert... pah, das bringt einen nicht weiter, Selbstbetrug.
    Von dem her klingt für mich die Eingangsfrage "Wo liegt bei Euch der Genuss.." ein wenig so nach "Muss ich mir den Scheiss wirklich antun um dabei zu sein?" Meine Antwort: Nein, wozu auch :)

    LG
    Thomas
     
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  3. saxhornet

    saxhornet Experte

    Ich bin auch Bachfan und finde es immer wieder lustig wenn Leute Jazz ablehnen oder Parker nicht mögen aber Bach toll finden. Dabei war Bach von der Melodik und Harmonik für seine Zeit damals auch schon fortschrittlich und harmonisch und melodisch finden wir vieles bei ihm wieder was auch im Jazz benutzt wird. Es gab auch mal eine Arbeit wo die Melodik von Parker mit der Melodik von Bach verglichen wurde. Könnte sie aber noch nicht lesen, weil ich noch nicht an die Arbeit rangekommen bin.
     
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  4. dikoki

    dikoki Kann einfach nicht wegbleiben

    Ganz genau. Schon mein Gitarrenlehrer in den 70ern bezeichnete Bach als den ersten modernen Komponisten. Ich hatte es zwar zunächst nicht ganz verstanden, finde aber inzwischen: Da ist wirklich was dran.
     
  5. Kohlertfan

    Kohlertfan Strebt nach Höherem

    Ich finde es immer wieder tragisch, wenn Leute Anton Weber ablehnen, aber Bach mögen. Hat Webern doch die selben Kompositionsstrukturen benutzt wie Bach.
     
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  6. Zappalein R.I.P.

    Zappalein R.I.P. Guest

    ...wirklich eine der sternstunden im zappa universum...
     
  7. nachbarschreck

    nachbarschreck Schaut öfter mal vorbei

    Ja da ist was wahres dran. Viele Improvisationen erschliessen sich mir nicht. Das Beispiel mit den zappa Musikern. Die Musik wirkt sehr unruhig und erzeugt bei mir Unbehagen. Von Genuss keine Spur. Da stellt sich schon die Frage ob ich im richtigen Theater sitze oder Jazz gänzlich nicht geeignet ist für Musik Genuss. Aber dann ist da Sonny Rollins oder Wynton Marsallis die, wie soll ich sagen, wohlgefällig daher spielen. Bei Rollins ist es auch so dass die Solos immer wieder für mich hörbar sind, sich mit der Zeit einprägen, vorhersehbar werden und dann so etwas wie ein eigener song entsteht. So auch Chet Baker Solos. Vermutlich spielen Wissen, Hörtraining, Erfahrung doch eine grosse Rolle um bei der Veranstaltung Jazz mitmachen zu können.

    Vermutlich ist jazz auch deswegen so schwer zu verkaufen, da es von vielen Musikern gar nicht als Genuss ausgelegt ist. Ich vermute Coltrane wollte die Leute nicht glücklich machen.
     
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  8. ToMu

    ToMu Strebt nach Höherem

    brecker tut mir nicht gut, wühlt mich auf, perfektionsspieler, keine linie - so unterschiedlich sind die empfindungen.
     
  9. dikoki

    dikoki Kann einfach nicht wegbleiben

    Jetzt hast Du mich aber erwischt. The Purple Lagoon!!! Als ich mir „Zappa in New York“ kaufte - müssen die späten 70er gewesen sein - war es genau dieses Stück, das ich jeden Tag rauf und runter gehört habe, und zwar wegen des Brecker-Solos. Weil es eine unbändige Power hatte und mich förmlich mitzog (was es immer noch hat und tut). Ich spielte zu der Zeit noch klassische Gitarre, dachte aber, „vielleicht wäre es gar kleine schlechte Idee, irgendwann einmal Tenorsax zu lernen.“ Was ich dann viele Jahre später auch getan habe. Zu meinem Glück!!!

    Vielen Dank für diesen Post, da wurden Erinnerungen wach!

    Und was lerne ich daraus?
    1. Meine Vorlieben und Abneigungen kann ich nicht immer konsistent begründen - muss ich ja auch nicht.
    2. Michael Brecker finde ich vielleicht viel besser als ich dachte.
    3. Ich habe habe einige CDs von ihm - ich sollte vielleicht mal reinhören:)
     
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  10. saxhornet

    saxhornet Experte

    Das ist definitiv der Fall.

    Warum sollte es nicht die Musik sein, die diese Musiker oder andere Personen geniessen und wie willst du beurteilen wer was gerne hört? Wenn es um Massengeschmack geht hätten wir dann nur noch so grossartige Musik wie Helene Fischer, Vanessa Mai und Kenny G.. Da freu ich mich doch über etwas Diversität. Mir ist ein Musiker lieber, der die Musik macht, die er mit Herz spielt und wenn das dann nicht allen gefällt, sei's drum. Und viele Aufnahmen von Coltrane machen mich glücklich, das kann ich von Ben Webster, Sonny Rollins oder Kenny G nicht behaupten.
     
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  11. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Nachdem ich seit Freitag über Beiträge im TotM Jazz Vorschlagsfred für Mai nachsinniere, ein oder zwei - sehr subjektive - Gedanken zum "Genuss" beim Hören von improvisierter Musik.

    Wenn man Musik als Kommunikation begreifen will, kommt der Vergleich zur Sprache immer wieder hoch, auch wenn er schlimm hinkt, um nicht zu sagen: er humpelt.

    Aber zur Verdeutlichung mag es hilfreich sein: Wir lesen hier täglich improvisierte Kommunikation. Vom schnell dahingerotzten Spruch bis hin zur umfangreichen Ausarbeitung. Und genau da sind die Parallelen - ich muss als Leser (Hörer) nicht die vollständige grammatische und semantische Konstruktion des Beitrags verstehen und erklären können, um mit dem Inhalt etwas anzufangen. (Erklären muss ich es nicht mal als Sender, verstehen aber schon. Und beim neunmalklugen Einstreuen von Fremdworten - oder der Tritonuskonstruktion in Takt 10 - muss ich wissen, was ich mache - Dilettant mit zwei l und vier t ist wie eine ii-V-I in die falsche I aufzulösen)

    Mir geht das mit den romanischen Sprachen so: mein Französisch ist schlecht aber ich verstehe das meiste; und bei Italienisch und Spanisch kriege ich mit worum es geht. Wenn ich den Inhalt nicht mehr mitschneiden kann, erfreue ich mich manchmal einfach am Klang beim seidigen Fließen des Italienischen (sogar, wenn sie schimpfen), am singenden, rhythmischen Französisch und gelegentlich sogar am verlispelten Stakkato der Kastilier.

    Übertragen auf improvisierte Musik, der ja per se die semantische Bedeutung einer Sprache fehlt (weshalb ja auch jeder Vergleich humpelt!), höre ich gerne die verschiedenen Sprachen und Mundarten der Musiker. Selbst wenn nur der Jupp mit dem Sepp einen Dialog anfängt und Jan den weiterspinnt ... das kann richtiger Genuss sein, so wie eine zwanglose Unterhaltung zwischen den dreien, einschließlich der unvermeidlichen Frotzeleien, ein Genuss sein kann.

    Und genauso, wie mir langlaberige Beiträge ohne echte Pointe zu viel Lebenszeit konsumieren; selbstgefällige, selbstreferenzielle Interpreten mir auch dann auf den Zeiger gehen, wenn sie ausnahmsweise etwas Sinnvolles sagen; notorische Wiederholer der eigenen Nachricht schnell aufdringlich werden; so wird dann auch das ständige und ungefragte Einwerfen von tendenziell wenig substanzhaltigen "Fills" auf Dauer nervig.

    Ist also (fast) wie hier im Forum - nicht jede Impro ist ein Genuss. Und vieles ist Geschmackssache, Stilfrage oder vom regionalen Tonfall geprägt.

    Aber da, wo mir Dexter im sonoren Brustton eine Geschichte erzählt und über x Chorusse ausschmückt; sogar da wo mir Coltrane seine spirituelle Dankbarkeit für das Überwinden seiner Heroinsucht mit der Intensität einer Polizeisirene erzählt, da ist es (für mich) ein echter, tiefer Genuss.

    Brecker, übrigens, ist für meinen Geschmack nicht nur ein exzellenter Handwerker sondern hat auch eine Menge Witz und Kreativität in seinen Improvisationen. Schade, dass er irgendwann in der Erwartungshaltung seines Publikums zum Virtuositätspanoptikum mutiert ist - mit "Don't Try This At Home" fing es für mich an, überkomplex zu werden. Seine Pop/Rock Solos sind dagegen fast immer einfach nur der Hammer. Die melancholisch dahinfließende Solomelodie von "Your Latest Trick" hat mich damals überhaupt zum Sax gebracht...

    An den anderen Enden des Spektrums finde ich das immer gleiche Kontrapunktgedudel von Stan Getz belanglos genug für den Hintergrund während - wieder nur für mich - die experimentellen oder avantgardistischen Free Jazz (oder wie auch immer man das bezeichnen will) Spieler das Gefühl von Fingernägeln auf der Schultafel erzeugen - Großmeister Coltrane in seiner spacig-abgedrehten Spätphase eingeschlossen.

    So, der war jetzt hoffentlich nicht zu lang.

    LJS
     
    Zuletzt bearbeitet: 28.April.2019
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  12. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff "Genuss".

    Wenn ich in ein Museum gehe, egal ob für traditionelle oder avantgardistische Kunst, dann geht es mir nicht in erster Linie darum, die Werke zu genießen. Für mich passt der Begriff "Anregen" besser, denn "Genuss" ist immer mit Wohlbehagen verknüpft. Nicht, dass ein Kunstwerk nicht Wohlbehagen auslösen darf, täte Kunst das aber ausschließlich, dann hätte sie ihre Funktion verfehlt.

    Kunst, und damit auch Musik, hat viele gesellschaftsrelevante Aspekte. Sie spiegelt die Gesellschaft und steht immer auch in einem kulturhistorischen Zusammenhang. So greift sie auch Themen auf, die uns kein Wohlsein bescheren, sie eckt an, sie provoziert, stellt sich selbst in Frage und lotet neue Grenzen aus, die wichtig für die gesellschaftliche Neuerung sind. Was im realen Leben vielleicht verboten ist, darf die Kunst machen, ja muss sie mitunter.

    Der Bebop in den 1940er Jahren war der erste Jazzstil, der solch einen künstlerischen Anspruch hatte. In seiner kompromisslosen Haltung ist er für viele auch heute noch schwer zu verstehen (geschweige denn, zu genießen). Dennoch hat das harmonische Konzept des Bebop neue Grenzen erkundet und bildet bis heute den Grundstock der meisten modernen Spielarten des Jazz. Der Hörer hat sich inzwischen an die "schiefen" Töne gewöhnt und genießt das Tritonussubstitut, wenn er bei Kerzenlicht seine Schmuse-Jazz-CD einwirft.

    Kunst ist für mich weniger eine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern ein Statement zur jeweiligen gesellschaftlichen Situation.

    Kunst soll mich wachrütteln, soll mich motivieren, provozieren, befriedigen, heiter oder traurig machen, in einem Wort: "anregen".
     
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  13. Nilu

    Nilu Ist fast schon zuhause hier

    gelöscht
     
    Zuletzt bearbeitet: 28.April.2019
  14. Claus

    Claus Mod Emeritus

    Und ich genieße die Stille, wenn ich auf den "Stop"-Button drücke. Aber wenn ich hier irgendetwas gelernt habe, dann ist es, die Tatsache unterschiedlicher Geschmäcker zu akzeptieren. Und die Diskussion über Geschmäcker und deren "Wert" hat hier noch nie zu etwas Vernünftigem geführt....
     
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  15. ToMu

    ToMu Strebt nach Höherem

    gedudel wie man im nordbadischen sagt. ich würde aufstehen und gehen.
    sorry, aber nur eine einzelmeinung.
     
  16. Atkins

    Atkins Strebt nach Höherem

    :) Sehe ich ja auch so Tomu....ich mag das Spiel von Brecker wirklich nicht sonderlich und würde da auch schnell wieder gehen, aber das habe ich hier schon mal erwähnt ( gerade auch das Wort Gedudel) und bin daraufhin schon ziemlich blöd angemacht worden. Macht mir nix, aber ich vergesse es auch nicht. Ich habe noch ganz frdl. immer dazu gefügt, dass er technisch superklasse ist, aber bei Gedudel fiel wohl Einigen die Kinnlade runter. Ich kann wenig mit dem Saxspiel von Brecker anfangen, eigentlich gar nix und kann das auch für mich persönlich nachvollziehen. Und, sollte man ja dazu sagen....sind nur meine bescheidenen 2 Cent.
     
  17. ToMu

    ToMu Strebt nach Höherem

    = unbestritten!! weltklasse, ich wollte ich hätte 10 % davon in den fingern.
     
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  18. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    "Gedudel" ist nicht nordbadisch - das ist schriftdeutsch, und es ist in allen deutschsprachigen Provinzen zutiefst abwertend und deshalb gerade in so einer Geschmacksdiskussion unangebracht.
     
  19. Atkins

    Atkins Strebt nach Höherem

    Naja zutiefst abwertend ist ja mal ganz schön übertrieben.....zumindest in meinem Wortschatz und da , wo ich gross geworden bin.
     
  20. saxhornet

    saxhornet Experte

    Es ist abwertend und dein Wortschatz ist nicht unbedingt in diesem Fall allgemeingültig. Wenn du mit dem Wort Scheisse Rosen bezeichnest, werden die Leute es halt anders verstehen als Du.
     
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