Wie wird aus Musik "Theorie" gelebte Praxis?

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von bebob99, 12.Januar.2022.

  1. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Es gibt da eine ähnliche Übung von Lennie Tristano, die ich hier nicht noch zusätzlich ausbreiten möchte.

    Einen Aspekt der bei Tristano zentral ist, aber in diesem Thread bisher kaum gewürdigt worden ist, möchte ich noch einbringen, gerade weil er, für mich zumindest, die Brücke von grauer Theorie zur gefühlten und gehörten Praxis darstellt.

    Bevor man einen Ton oder eine Tongruppe spielt, sollte man sie voraus hören. Ich hab sie dann auch immer gesungen.

    Bei TMS-3 könnte das so ablaufen: "C" spielen - "D" und "E" hören/singen - "D" und "E" spielen.
     
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  2. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    Ich vergleiche musikalische Bezifferungen oder Vorzeichen gerne mit Vektoren aus der Physik, weil sie immer eine Richtung vorgeben und damit eine musikalische Dynamik zum Ausdruck bringen. Hier eine Definition aus Wikipedia:

    Eng verwandt mit den geometrischen Vektoren sind vektorielle Größen in der Physik. Das sind physikalische Größen, die einen Betrag und eine Richtung besitzen, und oftmals durch Pfeile dargestellt werden, deren Länge dem Betrag der Größe entspricht. Beispiele dafür sind Geschwindigkeit, Beschleunigung, Impuls, Kraft, elektrische und magnetische Feldstärke.

    Vergleicht man einen Melodiefluss mit dem Weg eines Wanderers, so ist es für diesen sch...egal, welches Zeichen ihn auf seine melodische Wegrichtung gebracht hat, egal ob es jetzt ein D#, ein Eb, ein Feses, eine b10 oder #9 ist: Hauptsache, er kommt ans Ziel.
    Für den Komponisten oder Genießer von Theorie (ja, sowas gibt's :)) ist es wichtig, dass Richtungen angegeben werden, um harmonische oder melodische Entwickungen ("Impuls, Kraft") anzudeuten mit "Richtungspfeilen" (= akkuraten Vorzeichen). So strebt eine b9 harmonisch nach unten, z.B. in A7/9b als II im II,V, I von G-Moll, der Ton Bb (b9 von A) abwärts zum A, dem Quintton der V (D7). Wenn ich das irgendwann gelesen, begriffen und gespielt habe, höre ich das auch ohne Instrument und Vorgabe.
    Der gleiche Ton, enharmonisch verwechselt zum A#, wird z.B. als übermäßige Quint in D7/5# zum B, dem Terzton von G-Dur, streben, oder halt einfach, wiederum enharmonisch verwechselt, als Bb (die ad 9 von G-Moll) liegen bleiben. Es gibt noch mehr Möglichkeiten.
     
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  3. ppue

    ppue Mod Experte

    Auch für den Leiter einer Gruppe von Musizierenden. Sind die Versetzungszeichen falsch angegeben, so kann er eine Partitur nur mit Mühe entziffern.

    Aber gerade bei #9 oder b10 streiten sich die Geister, denn das Tönchen ist eher eine bluesige Reiberei denn ein richtungsweisender Melodieton. Ich finde b10 die adäquatere Schreibweise, weil er die Beziehung zur großen Terz aufzeigt. Hat halt nicht so schön in die Terzenreihe gepasst, mit der wir Akkordtöne normalerweise stapeln. Auch richtiger, weil ich den Ton als blue empfinde und blue fühlt sich immer bedrückt an.
     
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  4. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Dann bin ich eher Wanderer, und so verstehe ich @Ton Scott s "whatever". ´: wir haben endlich einigermaßen einheitliche Akkordbenennungen, die im schnellen Fluss der Musik gelesen oder zu Hause beim Studieren eines Leadsheets in Tonaufbau und Funktion blitzartig erfasst werden sollen. Da verliere ich mich nicht in philosophische Diskussionen, sondern weiß subito, was b9, #9, #11, #5 für ein Ton ist und was der da an der Stelle bedeutet.

    Der Changesbeauftragte der UNO wird sicher ein offenes Ohr für dich haben, und wir Praktiker ärgern uns dann, wenn es plötzlich ab eines schönen Tages b10 statt #9 heißt. Und Hal Leonhard reibt sich die Hände, weil er eine neue edition seines Real Books auflegen kann.
     
  5. ppue

    ppue Mod Experte

    Mach dir nicht so viele Gedanken, @gaga.
     
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  6. Rick

    Rick Experte

    b10 trifft es besser, weil ich in der praktischen Improvisation dann die große Terz vermeide, die Sekunde aber trotzdem spiele.
    Natürlich weiß ich aufgrund meiner Erfahrung auch bei #9, was gemeint ist, aber meine Schüler haben da oft erstmal ein Fragezeichen über dem Kopf.
     
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  7. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    Das empfinde ich genau wie du. Ich verbinde mit Alterierungen verschiedene Assoziation. Den übermäßigen Dreiklang (C-E-G#) mit der übermäßigen Quint C-G# empfinde ich als "anmaßend", arrogant, halt übermäßig, "will hoch hinaus". Die Blue Notes passen eher zu mir, weil ich eh ein Blues-Mensch bin. Wie war das noch mal mit der Aufschrift auf dem Grabstein eines Blues-Musikers? "Didn't wake up this morning".
     
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  8. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Das verstehe ich nicht?
    Wieso sollte man die Durterz vermeiden, wenn man die #9 spielt?
    Ich finde übrigens auch, dass man diese b10-#9 Diskussion lassen sollte, weil wie @gaga schon erwähnt hat b10 wegen des gängigen Systems genauso dämlich ist.
    Die #9 ist keine kleine statt der großen Terz!
     
  9. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Und? Ignorierst du das # an der 5 oder vermeidest du den Ton oder spielst du gar nix?
     
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  10. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    Nein, manchmal muss Musik einfach weh tun, und klar spiele ich die übermäßige Quinte und genieße sie sogar als MusiMasochist. Es ist doch schön, wenn der Schmerz nachlässt. Das ging mir damals schon so mit "Purple Haze" von Jimi Hendrix, dessen Intro ich schrecklich schön fand.
     
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  11. ppue

    ppue Mod Experte

    Dann würde ich dir anraten, nicht mitzudiskutieren.

    Der b10-Akkord ist eine Entdeckung auf Tasten- und Seiteninstrumenten, die das Ziehen der Durterz durch Sänger oder Bläser simuliert. Besonders Pianisten haben dazu keine andere Möglichkeit. Na, vielleicht noch, die kleine Terz als Vorschlag zu spielen.

    Ich würde in der Regel darüber auch keine klare Dur-Terz spielen, sondern diese nur im chromatischen Zusammenhang benutzen. Der Klang des b10-Akkordes ist eindeutig blue. #9 drückt das nicht aus.
     
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  12. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Ja eh, Alterssturheit kommt bei mir erst. Kein Problem. Ich handhabe es eben anders.
     
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  13. ppue

    ppue Mod Experte

    Das ist lieb von dir.
     
  14. Rick

    Rick Experte

    Natürlich ist generell in der Kunst heutzutage nichts "verboten", selbstverständlich kann in passendem melodischem Zusammenhang auch eine Sax-Durterz über einen #9-Akkord der Begleitung ganz interessant wirken.

    Im Unterricht sage ich immer: "Probiere es aus, und wenn dir der Sound gefällt, dann mach es eben. Aber auf der Club-Bühne könnte es passieren, dass du ein paar Bierflaschen an den Kopf bekommst." :rolleyes:
    ("Blues Brothers" 1)
     
    Zuletzt bearbeitet: 19.Januar.2022
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  15. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Die M7 zwischen Eb und E im C7 beispielsweise ist das geilste Intervall ever.
    Von wegen Bierflaschen.
    Spiel einfach mal C-E-G-Bb-Eb rauf und runter auf das E und leg einen C7-Akkord drüber. Klingt das übel?
    Ich weiß echt nicht, wovon Ihr da sprecht.
     
  16. Rick

    Rick Experte

    Dein Beispiel ist eine Akkordbrechung, ich rede von einem Sax-Solo ÜBER den #9-Akkord der Begleitung.
    Wenn Du unbegleitet oder nur mit einstimmiger Begleitung spielst, hast Du selbstverständlich viel mehr Freiheiten, weil Du praktisch selbst den Akkord definierst.
    Aber mit Schrammel-Gitarre oder einem übereifrigen Pianisten "unter" dem Solo sieht die Improvisationswelt ganz anders aus. ;)
     
  17. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    @Ton Scott : eines meiner Lieblings Intros ever mit Claptons E7/9# in "I Feel Free" im ersten Akkord mit Fade Out.



    Hihi, auch der ungelenk schlackernde Clapton ("like a puppet on a string") im Beat-Club Playback ist auch ein Zeitdokument. Schade, dass Uschi Nerke reinquatschen musste.
     
  18. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Die Durterzen in Zwischendominanten vom Solisten gespielt machen das Ganze klassischer, funktionsharmonischer. Die Harmonik wird bestätigt. Wenn das harmonische Material nicht so reichhaltig ist, zB einfacherer Blues (also nicht grad mit II-V Rückungen), ist es imho dann etwas trickier, eine fließende Impro hinzukriegen. Die Akkorde sind sozusagen in Beton gegossen (um es mal maßlos zu übertreiben). Lässt man die Durterz weg, spielt mehr die #9, nivelliert sich etwas der Unterschied zwischen den aufeinanderfolgenden Akkorden, was eine fliessende Impro etwas erleichtert.
    Harmoniespieler legen ja die Durterz, wenn sie sie spielen, eher in die Tiefe, die #9 eher in die Höhe (womit sie natürlich dominanter wird).
    Was fast nicht geht ist #9 unten, Durterz oben. Gibt ein b9 Intervall, extrem spicy.
     
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  19. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Jetzt wird wieder zerdiskutiert. Mach ich auch noch mit.

    Die #9 ist nicht immer blue note.
    Die #5 klingt schön.

    Der Kontext machts.
     
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  20. Rick

    Rick Experte

    Mag sein, aber in der Regel wird der #9-Akkord als Begleitung gewählt, wenn man einen Blues-Sound wünscht, also wenn beispielsweise an dieser Stelle die Blues-Terz in der Melodie vorkommt.
    Deshalb spielt man in der Improvisation stilgerecht ebenfalls die Blues-Terz. :cool:
     
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