Chromatik im Jazz

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Gelöschtes Mitglied 13399, 4.August.2023.

  1. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Da ich auch eine Liebe zur klassischen europäischen Konzertmusik hege, beschäftige ich mich in letzter Zeit etwas mehr mit den Unterschieden zwischen Jazz und Klassik.

    Wenn ich von Klassik und Jazz spreche, ist das natürlich eine starke Vereinfachung, aber ihr könnt hoffentlich trotzdem meinen Gedankengang nachvollziehen.

    Mir fällt auf, dass vor allem in der Wiener Klassik und auch in der Romantik gerne chromatische Annäherungen auf den Schlag fallen, was zusätzliche Spannung erzeugt und bei den meist recht klaren Voicings der Wiener Klassik auch sehr gut klingt. Vielleicht würde dies mit den meist recht dicken voicings im Jazz nicht funktionieren.

    Ich finde es allerdings recht reizvoll. Gerade bei old time jazz hört man es auch immer wieder.

    In einem etwas moderneren Kontext klingt es aber sehr "corny" (was ich persönlich als Kitschliebhaber mag), wenn man eine chromatische Umspielung so konzipiert, dass die target note off the beat liegt.

    In einem Bebop-Kontext kann ich die, ich nenne sie mal so, "grammatikalische Korrektheit" der Melodik nachvollziehen, denn schnell würde es sonst schwer, den im klassischen Bebop typischerweise sehr nachvollziehbaren, sangbaren, effizienten Melodien bei halsbrecherischen Tempi und vertrackter Phrasierung noch zu folgen.

    Mit Ausnahme der Blue notes wird aber sonst ein Ausspielen der changes gegenüber etwaigen Spielereien bevorzugt - es sei denn, man spielt outside, da greifen jedoch andere Zahnräder ineinander als ich sie bei der Klassik wahrnehme und vor allem wird ja beim typischen Outside-Spielen oft auch nur ein Gerüst an changes ausbuchstabiert, welches dann einfach nicht konform ist mit der sonstigen Harmonik des Stückes.

    Selbstverständlich spielt in all das auch die Frage hinein, vielleicht geht es hier sogar eigentlich um die Frage, wo "outside" spielen anfängt. Schließlich kann man die bebop-figur E, Eb, D, C, C#, A (gleichlange Notenwerte, on the beat beginnend) durchaus als clevere superimposition der C-major-blues-scale über A-Dur mit anschließender Auflösung in die eigentliche Tonalität des Stückes auffassen.

    Vielleicht ist aus diesem Wortgeschwirr herauszulesen, worum es mir geht.

    Ich meine den unterschiedlichen Sound etwa folgender Phrasen:

    E, Eb, D, C, C#, A

    E, Eb, D, B, C, C#

    (gleichlange Notenwerte, on the beat beginnend)

    Letztere Phrase ist nicht wirklich klassisch und eher im Grenzbereich, klingt dennoch in einem Jazzkontext nicht hundertprozentig idiomatisch korrekt.
    Phrasen wie diese Reizen mich aber zunehmend und ich wundere mich, dass ich sie selten auf Aufnahmen höre. Ist die Platzierung der target note off the beat einfach zu zickig?

    Bei Gelegenheit werde ich einige Beispiele konzipieren und hier hochladen.
     
    Rick und giuseppe gefällt das.
  2. altblase

    altblase Strebt nach Höherem

    Immer dann, wenn ich mich beim Improvisieren durchpfuschen muss, benutze ich gerne Chromatik!:cool:
     
  3. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Was ich bisher davon wahrgenommen habe, geht es beim outside Spielen darum, eine nicht zu kurze Passage z.B. einen Halbton höher zu wiederholen, völlig unabhängig von darunter liegenden Harmonien, um es dann mehr oder weniger geschickt wieder aufzulösen. Outside ist m.W. nicht, A7 über C7 zu legen, sondern ein rein motivisches Vorgehen, dass sich von der Harmoniefolge löst.

    Das ist doch voll normal. Ich weiß nicht, wo für dich im Jazz "100%ige Korrektheit" beginnt - und das Urteil "zickig" ist sehr geschmacks- und stilbezogen. Wer "Groovin High" zickig findet, findet die target note auf dem off beat wahrscheinlich auch zickig- aber der bewegt sich in anderen Sphären als ich und mag Dizzy nicht (und ist im Moment in Wacken:D).
     
    _Re_, Rick und Gelöschtes Mitglied 13399 gefällt das.
  4. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Was verstehst du denn unter target note?
    Die Zielnote oder deren chromatische Annäherung?
    E, Eb, D, C, C#, A
    Also hier das das C#, oder das C?

    -

    Es ist klar, das die 2. Phrase E, Eb, D, B, C, C# holprig klingt.
    Der chromatische und (erstmal) tonartfremde Ton C erzeugt ebend durch seine Fremdheit Spannung, was durch die Position auf dem onbeat nochmal verstärkt wird. Der "falsche" Ton C wird also zweimal betont, was auch das nachfolgende C#, obgleich Akkordton, nicht mehr vollständig auflösen kann. Bzw übrigens erst das C# am Ende definiert die "Falschheit" des C.
    Ersetzt man das letzte C# durch ein B, also E, Eb, D, B, C, B, dann entsteht eine andere Tonalität, und die Phrase klingt nicht mehr holprig.
    (Ich weiss nicht, ob das banale oder erhellenden Aussagen sind, ev ist das eh klar.)
     
  5. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Als target note habe ich das C gesehen. Deine Erklärung, warum es zickig klingt, ist sehr gut, war jedoch nicht neu für mich, deswegen bezeichnete ich die Phrase ja als zickig, allerdings finde ich diese Dissonanz als relativ interessant und fände sie zumindest am Schluss eines Abschnitts eines Solos oder am Ende einer längeren Phrase schöner als das zu erwartende Klischee.
    Was die abgewandelte Form der Phrase angeht, kann ich dir nicht ganz folgen. Welche Tonalität etabliert sie?
    G-Dur? Dann hätte man zumindest noch einen Quartvorhalt, nach meinem Empfinden für Klischee und Idiomatik müsste dann das C doppelt so lang sein wie die anderen Noten und noch ein G and das B angehängt werden, das wäre aber immer noch zickig.

    Nur E, Eb, D, B, C, B ergibt für mich nur Sinn, wenn das E off the beat liegt und dann Achtelnoten folgen, wirkt aber immer noch etwas zickig.

    (Ich etabliere in diesem Post mal ganz eitel mein vorrangegangenes Wort zickig als legitimen musikologischen Terminus).

    Groovin' High ist hier ein sehr schönes Beispiel.
    Die target note der Chromatik (Quinte) liegt hier on the beat. Die folgende Terz off the beat war zu Bebop-Zeiten eher modern und gerade das Beenden einer Phrase mit einem Sprung nach unten, der nicht on the beat endete und ebenso wenig auf dem Grundton galt als damals Neu, ja, ich wage es zu sagen, als zickig.
    Diese rhythmische Eigenheit hat sich aber etabliert.

    Warum also nicht etwas ausgefallenere, grammatikalisch fehlerhafte Umspielungen?

    Es gibt etwa eine schöne Klischeephrase der Klassik, z.B. zu hören in Mozarts Klarinettenkonzert:

    Db, C, Bb, Ab, G, F (septime rauf), Eb, Db, B, C# (Achtelnoten, die letzten beiden aber Viertel).

    Diese würde in einem Jazzkontext albern klingen, zumindest, wenn es nicht doch durchlaufende Achtelnoten sind, die man spielt. Ich mag aber diese Albernheit.

    Ich finde es einfach spannend, sich zu fragen, warum die Konventionen im Jazz so sind, wie sie sind, denn - ja - es gibt sie, die Konventionen, auch im Jazz. Vor allem, wenn man den traditionellen Spielweisen verhaftet ist wie ich.
     
    Rick gefällt das.
  6. Matthias Wendt

    Matthias Wendt Ist fast schon zuhause hier

    Komisch- Für mich als von der Klassik kommender klingt das überhaupt nicht holprig, sondern wie ein ganz prima Fugenthema. Das könnte dann bspw. so weitergehen:
    E, Eb, D, B, C, C# --> D, C#, C, A, Bb, B, danach Kadenz
     
  7. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Es geht mir darum, ist wohl auch banal, trotzdem für mich immer wieder erstaunlich, das erst eine nachfolgende, also spätere Note die Wirkung einer vorhergehenden definiert/bestimmt. (E, Eb, D, B, C, B kann z.B. über A-moll gehen, besser noch, wenn man als letzten Ton A spielt E, Eb, D, B, C, A
     
    Rick und Gelöschtes Mitglied 13399 gefällt das.
  8. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Interessant. Und wieder definiert die spätere Note die vorherige. C# wird jetzt als chrom. Durchgang empfunden, ergo das davor liegende (und das danach kommende) C als tonarteigen.

    -

    Holprig klingt E, Eb, D, B, C, C# für mein Ohr dann, wenn das C# das Ende der Phrase ist.
     
  9. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Ist es nicht für ein Fugenthema zu stark chromatisiert? Es fehlt m.M.n. die eingängige, intuitive Verortung der Tonart beim unbegleiteten Hören.
    Aber du bist der Klassikkenner, nicht ich.

    Überhaupt nicht banal und für mich als detailverliebten Pedanten ein superinteressantes Thema. Also danke für deine Beiträge hier.
    Wie sagte Miles Davis einmal ungefähr?
    It's not what you play but what you play thereafter

    [sinngemäß]
     
    giuseppe gefällt das.
  10. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Bach sagt: Nein.



    Grüße
    Roland
     
  11. Matthias Wendt

    Matthias Wendt Ist fast schon zuhause hier

    Einige der berühmteste Fugen überhaupt haben chromatische Themen: BACH bspw. oder das angeblich von Friedrich dem Großen stammende Thema zum Musikalischen Opfer
    https://de.wikipedia.org/wiki/Musikalisches_Opfer#/media/Datei:The_Musical_Offering_theme.svg
    Dazu meinte mein Prof. früher immer, das bestimmt nur die erste, akkordische Hälfte vom König stamme, das chromatische Ende aber sicher als Herausforderung von einem der Musiker der Hofkapelle ausgedacht worden war. Meiner Meinung nach kann Bach das auch selbst als kleine Spitze, dass ihm nämlich der Themenkopf etwas zu primitiv und wenig herausfordernd war, hinzugefügt haben.
     
    Rick und Gelöschtes Mitglied 13399 gefällt das.
  12. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Bach ist aber überdurchschnittlich chromatikaffin (-:
    Trotzdem habt ihr Recht, point taken.
     
    Rick und Matthias Wendt gefällt das.
  13. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Bach ist aber überdurchschnittlich chromatikaffin (-: .
    Ihr habt trotzdem beide Recht und mich überzeugt. Point taken :thumbsup:
     
  14. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Was ist denn "typisch Outside"?

    "Einfach nicht konform mit der sonstigen Harmonik" liest sich im Kontext für mich als sowas wie "Hauptsache, es passt NICHT" - das wäre aber so weit Outside, dass es beliebig wird.

    Wenn ich z.B. Joe Henderson als prototypischen Outside-Spieler höre, sind es aber sehr wohl Sachen, die aufs Engste mit der Harmonik des Stückes konform gehen ... nur eben nicht im handelsüblichen Vierklang Platz finden.
    Da ist dann, je nach Stilistik, Modal Interchange, Upper Structures und das Spiel mit den Verwandtschaftsgraden der Töne angesagt oder eben modales Spiel mit teilweise exotischen Skalen.
    Aber das ist, wenn es gekonnt gespielt ist, sehr konform mit der sonstigen Harmonik des Stückes - so lange es eine gibt.
    Durch das Ausloten der harmonischen Struktur entsteht natürlich Chromatik, die entweder leittönig wirkt oder Spannung erzeugt oder Blue Note-Effekte hat, aber eigentlich nicht für sich alleine steht. Der Ursache - Wirkungszusammenhang ist andersherum: Chromatik folgt Harmonik, gerade beim "Outside".

    Das Gerüst wurde ja mit den "New Thing" von Coleman und Dolphy usw. versucht aufzuweichen und ist, als rein intuitiv-expressives Verlassen aller tonalen Bezüge, erst mit dem German-Jazz gelungen (Mangelsdorff, Brötzmann usw. - was viele dann als Destruktion empfunden bzw. diffamiert haben, obwohl es eigentlich eine Dekonstruktion mit dem Ziel der Befreiung war. Man muss das deswegen trotzdem nicht immer "schön" finden.).


    Entschuldige den Exkurs - das hat natürlich nur wenig mit der Chromatik in der Wiener Klassik zu tun (von der ich - zugegeben - nicht die leiseste Ahnung habe) und auch Barockfugen sind ziemlich dünnes Eis für mich.
     
    Rick und Gelöschtes Mitglied 13399 gefällt das.
  15. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Für mich alles auch dünnes Eis, daher der Thread, aber bisher bin ich doch recht zufrieden damit, wie er läuft und habe einiges gelernt.
     
    Rick gefällt das.
  16. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Ich habe jetzt ein wenig experimentiert und was mich wohl fasziniert und vielleicht auch ein Unterschied zwischen Klassik und Jazz sein mag, ist ein Wechsel in der Dynamik (nicht im Sinne von Lautstärke) innerhalb einer Phrase. Das Gefühl des Zurückhaltens oder Losstürmens. Dass also selbst bei durchlaufenden Achtelnoten nicht das Gefühl entsteht, alle diese wären im gleichen Tempo.

    Wenn man aber nicht Komponist ist, sondern mit lebendigen Begleitern spielt, im Groove bleiben will etc. klingt dies aber zickig.
    Ich denke, ich habe hiermit das Phänomen, das mich gerade beschäftigt erkannt. Jetzt folgen weitere Experimente, Überlegungen...
     
    Rick gefällt das.
  17. giuseppe

    giuseppe Gehört zum Inventar

    Ich versuche mal ein wenig in diesem spannenden Thread zu folgen.

    Ein Vorhalt auf dem Schlag ist für mich etwas, was vor allem in Abhängigkeit des harmonischen Tempos unterschiedlich gut funktioniert, eigentlich genre-unabhängig.

    Wechseln die Harmonien langsam, gar nicht (modal) oder mäßig langsam aber sehr vorhersehbar, ist der Vorhalt auf dem Schlag eine kleine oder größere Tension, mit oder ohne Auflösung. Man könnte auch sagen, dass der harmonische Fluss durch eine vorübergehende Erweiterung bewusst beschleunigt wird, der Vorhalteton auf den Schlag einen Zwischenakkord generiert, um der langsamen Harmonielinie entgegenzuwirken.

    Je schneller das harmonische Tempo, desto weniger funktioniert das - für mich einfach deshalb, weil die schweren Zählzeiten der Melodie dann einen diatonischen oder auch chromatischen Nachbarakkord buchstabieren, der vielleicht sogar vorher oder nachher kommt. Dann wirkt der Vorhalt auf den Schlag im schlimmsten Fall wie ein Rechtschreibfehler.
    Oder habe ich das Thema verfehlt?
     
  18. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Gute Zusammenfassung!
     
  19. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Das deutet auf unterschiedliche Auslegung von Swing hin… der typisch „ternäre“ Ansatz mit den gebundenen ersten zwei Triolenachteln wurde von @Juju mal - sehr treffend - als „Zickenswing“ benannt.
    Daraufhin hat @Ton Scott das genauso treffende Zitat von George Garzone gebracht: Das erste Achtel ist nicht länger, das zweite Achtel kommt später.

    Auch das hat insoweit etwas mit Chromatik zu tun, als man sich - stilabhängig - Akkordtöne auf den Schlag und alle anderen neben den Schlag legen würde.

    Aber jetzt habe ich evtl. das Thema verfehlt.
     
  20. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    George Garzone sagt "Humping Camels", wenn ich das mit meinem Schulenglisch richtig interpretiere :)
     
  1. Diese Seite verwendet Cookies, um Inhalte zu personalisieren, diese deiner Erfahrung anzupassen und dich nach der Registrierung angemeldet zu halten.
    Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies.
    Information ausblenden