Kirchentonarten verstehen

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Dingo, 14.Juli.2024.

  1. Sebastian

    Sebastian Ist fast schon zuhause hier

    Hier ist eine Zugabe für den einfachen Dur-/Moll-Wandel: https://www.youtube.com/@MajorVsMinor/videos
    (In the Mood ist richtig gruselig, Take Five dagegen total putzig...)

    Nein, der David Bennett hat nie die komplette Melodie versetzt, sondern immer nur die Töne, die für die Konstituierung der jeweiligen Modi nötig waren. Und er hat in größerem Umfang jeweils die begleitenden Akkorde geändert, damit es zusammen passt. Und diese Beispiele klingen ja tatsächlich auch alle in sich auf ihre eigene Weise stimmig. Das es trotzdem als schrecklich empfunden wird, hat mit unseren Hörgewohnheiten zu tun: Wir alle kennen diesen Song und deshalb klingt er für uns mit der gewohnten Melodie in der gewohnten Tonart und der gewohnten Akkordfolge "richtig". Manchmal denke ich, dass das auch eine Qualität "gut gemachter" Musik ist; Man denkt sich "Ja, genau so und nicht anders muss das klingen..."
     
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  2. bthebob

    bthebob Strebt nach Höherem

    @Sebastian
    Ich hab' das Experiment von Tafkah aus Post #50 am Klavier mal ausprobiert.

    Die bekannte Melodie von "Alle meine Entchen" war irgendwann weg.

    Spätestens in der -lokrischen Fassung-

    Konnte die Tierchen aber mit C-Dur wieder einfangen.:)

    VG
     
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  3. Sebastian

    Sebastian Ist fast schon zuhause hier

    Mixolydisch geht mit "Alle Meine Entchen" gar nicht (bzw. nur über Hamonisierung), weil die Septime nicht vorkommt. :klug:
    Guten Abend, gute Nacht oder Somewhere Over the Rainbow wären z.B. noch voll diatonische Medlodien, in denen alle 8 Töne der Tonleiter vorkommen.
     
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  4. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    Lass doch die Entchen ruhig untertauchen oder davonschwimmen. Genau darum geht es: zu erfahren, wie sich eine Melodie in einem Modus verändert. Es wäre nachgerade absurd zu erwarten, dass die "gemütliche Badewanne" der Originalmelodie erhalten bleibt.

    Hatte ich ja im Kommentar zu Mixlydisch auch geschrieben. Mein Ansatz war, nicht die gesamte Leiter kognitiv, also wissend und begreifend zu studieren, sondern ein konkretes Beispiel im kleineren Tonraum, z.B. im Fünftonraum, in den verschiedenen KiTonleitern mit Spiel und Spaß zu erhören und zu erleben. Spaß muss es schon machen. Noch ein Spaß, diesmal abwärts:

    Helene Fischer: Atemlos durch die Nacht; Original: Ionisch (Dur), der Einfachheit halber wieder auf C, diesmal halt ab- und aufwärts mit Oktavbezifferung

    Ionisch (Dur)

    C2-H1-A1-A1-G1-E1, E1-G1-G1-H-H-C1-C1

    Kommentar: bekannte Melodie im Wohlfühl-Modus

    Dorisch

    C2-B1-A1-A1-G1-Eb1, Eb1-G1-G1-B-B-C1-C1

    Kommentar: schon hier sehr verfremdet, weil die Originalmelodie sich sehr auf die Dur-eigenen Leittöne (Halbtöne) stützt

    Phrygisch

    C2-B1-Ab1-Ab1-G1-Eb1, Eb1-G1-G1-B-B-C1-C1

    Kommentar: nur noch rhythmisch vertraut; die Sexte am Ende bringt einen völlig weg vom Eindruck des Originals

    Usw usw; allerdings wird durch die Erstreckung der Melodie über eine Oktave hinweg und die Sprünge die Sache schon anstrengender.
     
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  5. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Holla, die Waldfeh!
    Erst hältst du uns mit Alternativen TOTM-Interpretationen auf Trab, referierst an Beispielen des schier unendlichen Schatzes unseres musikalischen Übervaters Bach, erklärst welche harmonischen Mechanismen dich in programmatischen Kompositionen nicht mehr überraschen und berühren können und dann
    Muss ich das jetzt tatsächlich anhören, um der Diskussion zu folgen?
    Ganz schwindelig ist mir jetzt… ;)
     
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  6. Tafkah

    Tafkah Ist fast schon zuhause hier

    Helene ist sicherlich nicht mein Fall, aber halt eine Melodie, die sich, ob man will oder nicht, auch die Medienpräsenz ins Ohr gefressen hat. Das war der Grund für meine Auswahl. Die Textzeile "Deine Blicke zieh'n mich aus" lässt mich unweigerlich die Heizdecke aus dem Schrank holen.
    Ich kann aber auch mit dem "Gefangenenchor" "Va Pensiero" aus Verdis Nabuco aufwarten, um dich endgültig a la schwindlig zu spielen:

    Bildschirmfoto 2024-07-17 um 13.44.51.png

    Fis-Dur muss es ja auch nicht sein, deshalb transponieren wir den Originalmodus Ionisch (Dur) wieder nach C:

    Ionisch (Dur)

    E1-D1-C1-G-G1-G1-E1-C1-C1-H-D1-F1

    Kommentar: sehr vertraut, kann jeder mitsingen

    Diesmal nur ein Beispiel:

    Lokrisch:

    Eb1-Db1-C1-Gb-Gb1-Gb1-Eb1-C1-C1-B-Db1-F1

    Kommentar: der faktische Moll-Dreiklang am Schluss führt einen in die tonale Wüste, und alles klingt überhaupt nicht mehr nach Verdis Original.

    Fazit zum Abschluss dieser Reihe: die Veränderung von bekannten Melodien zum "Spielen" mit den KiTonleitern macht nur bei sehr einfachen Melodien im 5-Ton-Raum Sinn. Alles Komplexere ist dann doch eher eine Übung des Hirns als der Ohren.
     
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  7. Dingo

    Dingo Nicht zu schüchtern zum Reden

    Ich glaube das ist genau das Problem bei mir: Meine 1. Sprache ist eine Tonale Sprache mit 7 Tönen. Spricht man das Gleiche Wort (oder genauer gesagt Silbe) nur in einer leicht anderen Ton höher, tiefer, steigend oder abfallend, hat es eine (z.T. komplett) andere Bedeutung sinngemäss.
    Deshalb haben die Töne in meinem Gehör einen festen Platz und die Reihenfolge auch. Auch wenn ich Saxophon cover von anderen Spielern höre, die das Lied aus dem Original transponiert haben, klingen sie fremd als hätte das Lied ihre Bedeutung oder Botschaft verloren. Aus diesem Muster, die mein ganzes Leben begleitet hat, auszubrechen fällt mir wahnsinnig schwer. Deshalb klingen die Modi für mich alle so fremd.
    Vielleicht brauche ich nicht wirklich Übung in den Fingern sondern zuerst in den Ohren.
     
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  8. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Deswegen habe ich ja die Liste gepostet. Und erwähne nun zum dritten Mal: Oye como va. *) Aber Du nimmst es anscheinend nicht wahr. :)

    Grüße
    Roland

    *)
    "...
    Der im Viervierteltakt aufgebaute Song im dorischen Modus
    ..."
    https://de.wikipedia.org/wiki/Oye_como_va
     
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  9. Rick

    Rick Experte

    Der Song ist natürlich dorisch, aber wenn man dorisch darüber improvisiert, klingt es für die "normalen Ohren" fremd, deshalb nimmt man dafür lieber die Moll-Bluestonleiter und lässt die Sexte weg.
    Sonst klingt es zu sehr nach Modern Jazz. ;)

    (Die "Kirchentonarten" waren vor Jahrhunderten in der Volksmusik völlig gängig, doch seit der Renaissance ist das ästhetische Empfinden in Mitteleuropa anders, diese Skalen sind eben "nicht mehr im Ohr".
    Der tonale Geschmack hängt äußerst stark von den Hörgewohnheiten ab.)
     
    Zuletzt bearbeitet: 17.Juli.2024
  10. Dingo

    Dingo Nicht zu schüchtern zum Reden

    Sorry, es mittlerweile zuviele Beiträge... habe deines wohl übersehen :)

    Ich habe mir das Lied sowohl angehört wie auch die (Piano)Noten dazu angesehen und komme der Sache hoffentlich ein wenig näher:
    Festgestellt habe ich, dass über A-Moll die Sexte erhöht ist (Fis). Aber nur wenn im Hintergrund den Akkord D-Dur gespielt wird. Hat das einen Grund?

    https://www.virtualsheetmusic.com/score/HL-2413.html
     
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  11. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Santana weiß das offensichtlich nicht.
     
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  12. Rick

    Rick Experte

    Nö, offenbar wollte er diesen Sound ganz bewusst.
    Ich habe ja darauf hingewiesen, dass es dann eben ungewohnt klingt - und nicht, dass man die Sexte nicht spielen DARF.
    (Als Jazzer habe ich natürlich mit "Strange Sounds" kein Problem, würde diese aber nicht vor JEDEM Publikum einsetzen.)
     
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  13. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich würde eher sagen, er klingt im Original am besten, weil es am besten die Stufenharmonik bedient. Die vielen dahingebogenen Akkorde für andere Moden ergeben oft wenig Sinn. Das hat weniger mit Gewöhnung zu tun als mit musiktheoretischen Gesetzen.
     
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  14. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Das sehe ich genauso.
     
  15. The Z

    The Z Ist fast schon zuhause hier

    Ich find es klingt nicht sonderlich strange oder exotisch, was Santana da spielt. Es klingt auch nicht nach Modern Jazz. Alles was Santana da spielt ist melodiös und man könnte es mitsingen.

    Der Hinweis von @Roland mit Oye Come Va als Stück mit dorischem Tonmaterial war ein guter.

    Ich behaupte sogar, um da authentisch drüber zu spielen benötigt man die dorische Sexte.
     
    Zuletzt bearbeitet: 17.Juli.2024
  16. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Ist das eine Frage des gespielten Tonmaterials, d.h. auf der I wird auch die keline Sexte (f) gespielt?
    Oder ist das eine Frage der Notation, sprich: Warum das Fis nicht als Vorzeichen, sondern jedesmal als Versetzungszeichen?

    Im zweiten Fall (Versetzungs- statt Vorzeichen) gibr es da verschiedene Notationsphilosophien:
    - die Vorzeichen, de man braucht
    - die Vorzeichen der entsprechneden Dur- oder Molltonart (alos hier: A-Moll) und die Abweichungen jedesmal als Versetzungszeichen vermerken.

    Grüße
    Roland
     
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  17. Sebastian

    Sebastian Ist fast schon zuhause hier

     
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  18. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ich glaube @Dingo hat hier schon einen wichtigen Punkt erkannt, es ist einfach nur eine korrekte Feststellung. Das Stück ist dorisch, obwohl die Sext in der Melodie gar nicht vorkommt.

    Der entscheidende Punkt ist die harmonische Deutung, die wahrscheinlich moderner ist als der Modus selber. Die dorische Sext impliziert die Subdominante in Dur (D statt D- im genannten Beispiel in A-Moll). Und andersherum, die Subdominante in Dur impliziert dorisch. So hören wir offenbar den Modus mit unseren funktionsharmonischen Ohren.

    Wie dorisch klingt (oder mit anderen Worten wie die große Sext in Moll klingt) hört man meines Erachtens noch besser auf den Mollakkord ohne Reharmonisierung.

    Zum Beispiel in den ersten 4 Takten des Intros dieser bekannten Aufnahme einer ansonsten funktionsharmonischen Nummer:

     
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  19. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Ja, im Solo schon IIRC.
    Aber ja. Wie bei "Alle meine Entchen" eine Ewartungshaltung vorhanden ist und Dur erwartet wird und nicht mixolydisch, obwohl die Septime nicht auftaucht.

    Aber es hat sich geklärt, das ist eine musikalische Frage. :)

    Grüße
    Roland
     
  20. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Aber meinst du, dass dies schon zu frühen Modi-Zeiten teil das gehörten war, die harmonische Deutung?
     
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