Das Hirn auf Improvisation

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Mugger, 8.November.2015.

  1. Mugger

    Mugger Guest

    Moin,

    weil ich grad mit meinem Lehrer drüber gesprochen hab, vielleicht kennen es ja einige noch nicht.
    Hochinteressant, wie ich finde (die Version mit deutscher Übersetzung):



    Grüßle, Guenne
     
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  2. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    Sehr interessant. Ich glaube aber, dass da ein Denkfehler drin steckt, den er als ganz passabler Improvisateur hätte vermeiden können. Improvisation ist eben nicht zu 100% spontan, jedenfalls nicht bei Jazz-Musikern, die jahrelang dafür üben mussten, um so zu spielen. Es ist immer auch ein Anteil an Repertoire, eingeübten Licks oder Phrasen, die ich wiederhole, weil sie mir gefallen, dabei, dessen Anteil an der Improvisation je nach Tagesform mal größer mal kleiner ist.
    Nicht, dass ich die grundsätzliche Stoßrichtung seiner Aussagen verneinen will, aber die Unterscheidung zwischen auswendig gelernt und spontan, die er der Interpretation seiner Messungen zu Grunde legt, kann man also so nicht anwenden. Das Problem ist aber, dass die verwendete Messmethode (ich habe im Zusammenhang mit Sprachcomputerentwicklung dazu letztens was gelesen) nicht schnell und nicht hochauflösend genug ist, um solche Unterschiede zu bemerken. Im messtechnisch ungünstigsten Fall hat man dann viele kleine Intervalle, die aus der Erinnerung kommen, aber immer quasi unter'm Radar durchlaufen.
    Am Ende ist das aus meiner Sicht auch die viel interessantere Frage: wie ist die Verzahnung von Neuem, Spontanen mit dem Erlernten, der Erinnerung. Meines Erachtens werden an dieser Schnittstelle die Begriffe Kreativität und Innovation definiert.
    Ich gebe ihm da insofern recht, dass wir da mittelfristig mit überraschenden Erkenntnissen rechnen dürfen, sobald die bildgebenden Verfahren feiner werden.
     
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  3. ppue

    ppue Mod Experte

    Hm.

    Kommt mir so ein wenig vor wie vor dreihundert Jahren, als sie an der Kopfform die Eigenschaften der Menschen ablesen wollten. Soooo viel weiter sind sie nicht gekommen. Eher enttäuschend oder habe ich wesentliche Erkenntnisse nicht verstanden? Mein Englisch ist nicht sonderlich gut aber alltagstauglich.
     
  4. Mugger

    Mugger Guest

    Moin,

    ich z.B. kann für mich körperlich die Unterschiede fühlen, wenn ich (im Rahmen meiner Möglichkeiten) "frei" improvisiere, ohne an Skalen oder Akkordsymbole zu denken oder wenn ich nach Akkordsymbolen spiele. Für die Umwelt ist das möglicherweise nicht wirklich hörbar.
    Für mich ist es wirklich wie Tag und Nacht.
    Und wenn ich "frei" spiele, spiele ich natürlich das, was ich irgendwann mal in irgendeiner Form geübt hab. Es ist halt eine andere Art des "Hineinhörens", der geistigen Koordination, um es mal so geschwollen auszudrücken.

    Cheers, Guenne
     
  5. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    @ppue
    Das Problem der Hirnforschung ist, dass es eine rein empirisch getriebene Wissenschaft ist. Streng genommen gilt das für jede Naturwissenschaft mehr oder weniger, aber nicht in diesem exzessiven Rahmen. Man muss Vorgänge im Gehirn und parallel den Menschen beobachten und dann Rückschlüsse ziehen, was die Hirnbilder bedeuten. Das ist viel Arbeit, von vielen Kreuzrelationen gestört und auch sehr von der Messtechnik abhängig.
    Du wirst lachen oder eher weinen, aber es gibt tatsächlich schon seit Jahren kriminologische Forschung, die sich mit den Hirnen von gewalttätigen Psychopathen beschäftigt und nach abnormen Veränderungen sucht. Meines Wissens nach glaubt man auch, gewisse Muster entdeckt zu haben, die z.B. einen Serienkiller von normalen Menschen unterscheiden. Wie wissenschaftlich belastbar das ist, muss man die Fachleute fragen.
    Es ist aber mit der Hirnforschung so eine Sache. Schließlich ist unser Gehirn das komplexeste Gebilde im Universum. Und wie soll ein Gehirn in der Lage sein, sich selbst zu verstehen? Dazu bräuchte es doch soetwas wie ein Doppelhirn, welches das Einfachhirn studiert.
     
  6. mixokreuzneun

    mixokreuzneun Ist fast schon zuhause hier

    der typ in der röhre spielt ganz ordentlich...... :-D

    lg

    mixo
     
  7. Saxfreundin

    Saxfreundin Strebt nach Höherem


    Danke JazzPlayer!!

    Sehr nachvollziehbar und leicht verständlich dargestellt, wie der Entwicklungsweg für exzellente Jazz-Improvisationen aussieht !!
    Und dass unser aktuelles Level IMMER das Zusammenspiel von unserem Wissen, Training, Erfahrung und spontaner Eingebung ist.
    Selten NUR eine spontane Eingebung, was das Wort "Improvisieren" einem einflüstern könnte.

    Apropros "Improvisieren": siehe auch engl. "improve" = ständig verbessern, verschönern, vervollkommnen, veredeln, verfeinern ;-)
    .
     
  8. ppue

    ppue Mod Experte

    @JazzPlayer, ich kenne mich einigermaßen mit Neurowissenschaften aus und weiß, wie wenig man weiß. Die Bildchen, die sie heute schießen können, sehen zwar gut aus, sie sind aber recht ungenau und lassen einen großen Raum für Interpretation, die vom untersuchenden Wissenschaftler gleich mitgeliefert wird und dem Ergebnis, was der sich durch seine Forschung erhoffte, natürlich nahe kommt.
    Aber genau das sagst du ja auch, weder die Auflösung lässt genaue Rückschlüsse zu noch sind die bestimmenden Parameter: Kreativität, einstuduerte Licks, spontane (was ist das?) Intuition etc. klar voneinander zu trennen.
     
    quax gefällt das.
  9. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    Für genauere Ergebnisse müsste man Elektroden implantieren. Das macht man im Rahmen der Sprachcomputerentwicklung bei Patienten, bei denen der Schädel eh bei einer Operation geöffnet wird. Für Jazzforschung wäre das aber unverhältnismäßig.
    Zu Beginn des Videos erklärt der Mann ja auch, wie die Methode funktioniert, mit der er gemessen hat. Hauptursache für seine Bilder sind Blutströme im Gehirn, die dann in bestimmten Arealen präsent sind. Blutströme sind aber nicht sehr genau lokalisiert, also für relativ große Bereiche im Einsatz und außerdem recht träge. Wenn ich mir von jetzt auf gleich etwas ausdenke, z.B. beim Übergang vom Thema zur Improvisation, dann müssen meine Gedanken da wesentlich schneller sein, als es der Blutfluss könnte. Wäre ja auch irgendwie seltsam, wenn man am Ende vom Thema kurz innehalten muss, bis der entsprechende Hirnbereich gebootet wurde.
    Wie gesagt: generell mag es stimmen, dass man (mit Abstrichen in der Präzision) bestimmten Hirnarealen gewisse Aufgabenbereiche zuordnen kann. Bei so zerstückelten Prozessen wie in diesem Beispiel hab ich aber meine Zweifel, ob man da den Kern des Prinzips treffen kann, wenn man nur so oberflächlich sucht.
    Der Ansatz ist aber sehr spannend und ich würde mich sehr freuen, wenn derjenige und seine Kollegen weiter dranblieben und in den nächsten Jahren bessere Resultate erzielen könnten.
     
  10. ppue

    ppue Mod Experte

    Das wird noch dauern. Im Gegensatz zur Komplexität der Vorgänge ist die Methode unglaublich plump. Auch mit implantierten Elektroden wirst du nicht heraus finden können, wie Augen, Gehör, Gehirn und Finger es anstellen, ad hoc über ein Gemälde von van Gogh zu improvisieren. Man müsste nämlich Muster verfolgen, die in den verschiedensten Bereichen des Gehirns gleichzeitig auftreten. Insbesondre die Kreativität schöpft aus solchen breit gestreuten neuralen Mustern, bringt Assoziationen zustande, die eben nicht topografisch an einem bestimmten Ort im Hirn zu finden sind.
     
  11. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Genau! Ich vergleiche das immer gern mit dem Computer. Wenn ich beim Gehirn weiß, welches Areal von Blut durchflossen ist, dann entspricht das beim Rechner einer Information wie "jetzt arbeitet der Grafikchip". Dann kann ich zwar sagen, dass im Grafikchip die Bilder berechnet werden, aber über die Algorithmen, die zur Anwendung kommen, weiß ich NICHTS.

    Und man stelle sich die Aufgabe vor, aus einem laufenden Rechner, die Algorithmen und Programme extrahieren zu wollen....

    Und mit bildgebenden Verfahren und Elektroden soll das beim Gehirn funktionieren?

    LG Helmut
     
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  12. Mugger

    Mugger Guest

    Ich fand die These, dass andere Bereiche im Gehirn arbeiten, wenn improvisiert wird, bzw. wenn auswendig Gelerntes wiedergegeben wird eigentlich ganz spannend.
    Die Unschärfe erwähnt der Wissenschaftler ja selbst.

    Cheers, Guenne
     
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  13. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ja, das finde ich auch spannend, aber gar nicht überraschend. Beide Aufgaben erfordern ja auch völlig unterschiedliches Training, und viele Meister der einen Disziplin sind völlige Nieten in der anderen. Die hohe Kunst ist beides zu können. Wenn ein guter Musiker ein geniales Melodiezitat harmonisch reizvoll in seinem improvisierten Solo unterbringt (so dass man schmunzeln muss, ihr wisst schon), dann ist das wohl die optimale Synthese.
     
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  14. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Ich kann mir nicht helfen, aber dass das zwei ganz verschiedene Tätigkeiten sind, scheint mir auch klar zu sein, auch wenn man nicht weiß, dass dafür im Gehirn andere Bereiche zuständig sind. Oder könnte man umgekehrt schließen, dass Improvisation und auswendig Spielen dasselbe sind, wenn dafür nur EIN Bereich im Gehirn zuständig wäre?

    LG Helmut
     
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  15. Mugger

    Mugger Guest

    Auswendig gelernt heißt auch ein Lick wiederzugeben, Skalen, Tensions bewusst zu spielen etc.

    Cheers
     
  16. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ich geb dir recht, valide Schlüsse sind hier schwer zu ziehen. Außer vielleicht, dass es dasselbe Gehirn ist, das beides kann. :)
     
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  17. visir

    visir Gehört zum Inventar

    Zum Auswendigspielen oder Improvisieren: natürlich beruht die Improvisation auf Gelerntem - und wenns nur Harmonielehre wäre. Freilich ist es mehr.
    Dennoch ist Improvisation was darüber hinaus, und darum ging es dem Wissenschafter. Deshalb ließ er die Leute nicht nur improvisieren, sondern auch Gelerntes machen, damit er den Unterschied sieht.

    Das ist schon ein paar Schritte weiter als "Kopfform". Und er hat schon was für mich Interessantes gebracht, wenn ich es auch (sprachlich) nicht hundertprozentig verstanden habe: es ging um die Kombination von aktivierten und deaktivierten Bereichen, und wenn ich richtig verstanden habe, beides im Stirnhirn. Wo es offenbar darum geht, was zu "produzieren", das Produzierte aber dann möglichst wenig auszusortieren, sondern viel "durchzulassen". Würde in mein Selbstbild passen - ich tu mich mit Improvisation eher schwer und bin ein sehr rationaler Typ...

    Mich würde wundern, wenn das im Hirn wirklich so spontan passieren würde: Du weißt ja, wo die Stelle kommt, ab der improvisiert wird, und "stellst Dich drauf ein". Mit Beginn der Improvisation ist der Bereich längst entsprechend durchblutet.

    Etwas genauer weiß man es mittlerweile doch, z.B. auf Teilbereiche bezogen... aber selbst, wenn man durch ein Experiment nur weiß, der Bereich xy ist jetzt aktiviert/ deaktiviert, ist das mehr als vorher. Wissenschaft behauptet schon lange nicht mehr, sofort die letzte Antwort zu haben. Gerade in der Hirnforschung ist es halt auch extrem schwer.
     
  18. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Der Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und schaffender Kunst ist vielleicht doch mehr, als nur ein "milieubedingter". Bestimmte Substanzen erleichtern möglicherweise die "Enthemmung" (siehe z.B. Oktoberfest), sodass man ungefiltert mehr rauslassen kann. Nicht dass ich Heroin- und Kokainabusus bei Jazzmusikern als sinnvoll darstellen will - ist ungesund, die Risiko-Nutzen-Relation stimmt so gar nicht. Es fällt aber schon auf, dass viele große (Jazz-)Improvisatoren ein massives, teils existenzielles Drogenproblem hatten und haben. Es würde mich interessieren, was Hirnforscher dazu denken.

    Es beschreiben ja auch viele hier im Forum, dass sie anfangs bei der Improvisation Probleme oder "Hemmungen" haben, überhaupt irgendwas von sich zu geben. Offenbar ist es in unseren meisten Lebensbereichen sehr vorteilhaft, ein hohes Maß an Filtration und Hemmung aufrechtzuerhalten, damit man bloß keinen Quatsch macht und sagt. Macht ja auch Sinn. Fürs Improvisieren müssen wir jetzt umlernen, und das ist gar nicht so leicht. Plötzlich darf nicht nur alles raus, es soll sogar alles raus, damit es originell ist und schnell genug geht. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass viele hier im Forum immer wieder das dringende Bedürfnis äußern, vor dem Improvisieren noch schnell 700 Skalen und 2000 Akkorde in die Finger zu prügeln, damit sie danach ja alles "richtig" spielen. Das fühlt sich für mich spontan irgendwie völlig falsch an, mir fehlten aber immer die Worte zu sagen warum. Jetzt kann ich es endlich verbalisieren: es zielt auf vermehrte Kontrolle, Improvisation braucht aber ein Stück weit reduzierte Kontrolle.
     
  19. ppue

    ppue Mod Experte

    Nein, den Bass, die Akkorde und Skalen vorher zu spielen, ist äußerst sinnvoll.

    Dabei lernt man die Form kennen, gewöhnt sich an die Changes und erwirbt die Fähigkeit vorzuhören, also die kommenden Akkorde voraus zu ahnen. Die Akkorde und Skalen spielt man, damit sich die Klänge im Ohr festigen und die Finger bei Vorzeichenwechseln nicht unvorbereitet sind.

    Es ist ein geistig-körperliches Training und dient dazu, Fingerabläufe zu automatisieren. Das dient wiederum dazu, dass man eben nicht mehr kontrollieren muss sondern loslassen kann und beim jeweiligen Akkord die entsprechende Leiter greifen kann, ohne das Bewusstsein damit zu belasten. Nicht vermehrte Kontrolle, sondern die Freiheit, ohne nachdenken zu müssen, die Melodie, die einem im inneren Ohr vorschwebt, automatisch und direkt umsetzen zu können.

    Es befreit vom Denken und ist Voraussetzung für eine intuitive Improvisation.

    Meistens handelt es sich nicht um 700 Skalen, sondern eine Hauptskala und 3-5 Nebenschauplätze, die man im Ohr hat und die sofort, unmittelbar abrufbar sein müssen.
     
    Bereckis, zwar, saxhornet und 2 anderen gefällt das.
  20. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    Aber warum unterscheiden sich dann die Improvisationen von Anfängern und Profis so deutlich? Dann müsste doch im Laufe des Lernprozesses immer mehr Erfahrung als Kontrollinstanz greifen.
     
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