Gänsehaut Feeling

Dieses Thema im Forum "Musiker / Bands" wurde erstellt von Dudelsax, 31.Juli.2009.

  1. Toffi

    Toffi Strebt nach Höherem

    Guten Abend,

    hm, bei aller Kritik an einer immer mal wahrnehmbaren Sopranlastigkeit speziell des Alliage Quartetts (hier beschränke ich mich mal auf die Homogenität des Saxophonsatzes, lasse also die Pianistin wieder außen vor...) ist ein Meckern über gelegentlichen unausgewogenen Klang bei denen ein Meckern auf wirklich hohem Niveau (oder sollte es jedenfalls sein ;-)). Wenn ich beispielsweise geschrieben habe, dass in erwähntem Konzert in Münster Altist und Tenorist teilweise zu wenig nach vorne kamen, gilt das für einzelne Momente, in denen das auffiel. Alles in allem sind alle vier Musiker das Alliage Quartetts Leute von Spitzenformat, bei denen ich persönlich das Zuhören voll genieße. Und dass Daniel Gauthier in solch einem Ensemble die Leitfigur ist, liegt vor allem an seiner herausragenden künstlerischen Persönlichkeit.
    Aber die Geschmäcker hinsichtlich Sopran-Sound sind wie im übrigen Leben eben verschieden, und auch die Toleranzgrenzen sind unterschiedlich eng gesteckt.

    Vor allem ist mir allerdings heute nachmittag noch etwas nicht unwesentliches zum Themenbereich "Karikatur von Barockmusik" bzw. "Virtuosengeklingel" durch den Kopf gegangen:

    Die Concerti von Vivaldi, seien es die "Vier Jahreszeiten" oder all die anderen mannigfaltigen Solo-Concerti, mag ich beileibe nicht mit dem gleichen musikalischen Grad messen wie die Werke von Johann Sebastian Bach, bei aller Großartigkeit eines Musikers wie Vivaldi sind seine Werke doch von so vielen Floskeln und wiederholten Phrasen durchdrungen, bei den allermeisten Solo-Concerti Vivaldis handelt es sich auch in der Originalfassung um virtuose Spielstücke mit toller Wirkung, aber einer erheblich flacheren Musikalität als jedes beliebige Werk Bachs.
    Will heißen, dass auch in original besetzten Einspielungen sicherlich die Mehrheit der Interpretationen vorwiegend virtuoses Geklingel ist (ich kann mich nicht ernsthaft an die erste Aufnahme mit Nigel Kennedy erinnern, nur daran, dass ich spontan wenig Freude daran hatte...).
    Will ferner heißen, dass eine "spaßige" oder "lockere" Interpretation wie z.B. von Quintessence solchen Spielstücken in meinen Augen weit eher gerecht wird als einer satztechnisch und klanglich streng und perfekt angelegten Bach-Fuge.

    Dass mir der Sopran-Klang von Daniel Gauthier meistens sehr gut gefällt, ist mein persönlicher Geschmack, den ich keinesfalls verabsolutieren will, genausowenig mag ich aber auch den Fakt geringreden, dass z.B. der Sopran-Klang des jungen Engländers im Eingangspost vielen anderen Menschen richtig gut gefällt, dass ich nicht zu diesen Menschen gehöre, ist eigentlich unerheblich.
    Dass Daniel Gauthier sich penetrant in den Vordergrund spielen würde, halte ich auch für ein etwas zu schnelles und überzogenes Urteil, das die Realität des Alliage-Klanges im Allgemeinen nicht trifft, das habe ich bislang überwiegend anders erlebt.
    Aber da sind wir wieder beim Punkt: wir erleben alles anders als andere :) - gut so.

    Alles Liebe

    Toffi
     
  2. ChristophBM

    ChristophBM Kann einfach nicht wegbleiben


    Hallo,

    ich hake mich da mal ein - wir alle wissen ja nun leider mangels Tondokumenten nicht sicher, wie z.B. Vivaldis Musik zu seinen Lebzeiten gespielt wurde - aber zumindest lehren uns die Musikwissenschaftler doch eher, daß in jener Zeit das Musizieren wahrscheinlich wesentlich stärker von frei improvisierten Kadenzen bestimmt war, als wir das heutzutage von den aufführenden Orchestern/Gruppen zu hören bekommen.

    Ich kann da auch nur spekulieren, und meine Vermutung geht in die Richtung, daß in dem Versuch z.B. all´ jene typischen musikalischen Verzierungen, Vor- und Aufschläge akademisch exakt und wiederholgenau zu präsentieren eine Menge jener Musikalität und Spontaneität, die sicher gerade für die barocke Musizierweise verbürgt gelten darf, auf der Strecke bleiben können.

    Das wäre für mich vergleichbar, wenn jemand Parker-Soli notengetreu abzuspielen gedächte - in Parkers Soli findet man ja auch bestimmte, typische "Bausteine", die aber bei ihm immer wieder ein wenig anders klingen, entweder durch eine tonale Variation, oder eine winzige Verschiebung der time, des Mikro-Rhythmus, oder der Betonung.

    Als Etüde eine großartige Sache würde aber solch´ ein Abspielen einer einstmals improvisierten Linie - mit kompositorischen Qualitäten im Sinne des "instant composing" - mit im "klassischen" Sinne präziser Spielweise aber doch eine zutiefst langweilige Angelegenheit werden.

    Im übrigen müssen wir sicher davon ausgehen, daß das Publikum jener Zeit [des Barock und des Bebop] ein Publikum mit im Durchschnitt außerordentlich hoher musikalischer und allgemeiner Bildung war, dabei aber sicher weit davon entfernt war sich als Zuhörer nachgerade in einer fast schon andachtsvollen Haltung der Musik zu nähern, wie das heuer in den Konzertsälen dieser Welt üblich ist.



    Gruß, Christoph
     
  3. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    Moin Christoph,

    das gefällt mir sehr gut, was du da schreibst. Selbst bei dem strengen Bach gibt es diesen "improvisatorischen" Charakter.

    Gruß,
    xcielo
     
  4. Toffi

    Toffi Strebt nach Höherem

    Hallo, Christoph,

    interessante Gedanken, und vermutlich wird es auch zu Vivaldis Zeiten mannigfaltige Diskussionen über "die absolut beeindruckendste" oder eine "völlig unmögliche" Interpretation diverser Werke gegeben haben.

    Nicht so sicher bin ich mir hinsichtlich des von dir vermuteten stärkeren improvisatorischen Elements speziell bei den "Vier Jahreszeiten", zumindest jetzt mal ganz speziell bei dem ersten Satz vom "Sommer", aber auch bei den anderen Ecksätzen. Von den "Vier Jahreszeiten" wie auch einigen Violin-Concerti habe ich die Partituren studiert, ich hoffe ja, dass das jeweils möglichst nahe am Urtext war...und die Passagen und Wechsel von Sologeige und Orchester sind da doch sehr detailliert notiert, ich glaube ja schon, dass Vivaldi die Motive und Phrasen zunächst mal so wie notiert hören wollte.
    Besonders in den langsameren Mittelsätzen sind ja bei Barock-Concerti sehr häufig Kadenzen und lediglich vage skizzierte Partien notiert, die bestimmt eine gewisse Verpflichtung zur Improvisation beinhalten (bei den "Vier Jahreszeiten" allerdings nicht so sehr...), aber man kann das in den Partituren ja schon ganz gut erkennen, wo ein Komponist wie Vivaldi den Interpreten freier gehen lässt und wo er ihn etwas mehr führen möchte.
    Und das Melodiematerial von Vivaldi ist nun einmal von recht vielen Floskeln durchdrungen, sehr schönen, aber doch häufig wiederholten. Da sehe ich also schon in der kompositorischen Anlage viel "Spielwerk".

    Bei Bach wiederum habe ich in Studium und Interpretationskursen (die natürlich auch nur ein minimaler Ausschnitt aus der weiten Welt der Musikwissenschaft waren...) gelernt, dass in den allermeisten Fällen in den Partituren noch die kleinste Achtelpause für den größten Tonsatzmeister aller Zeiten von eminenter Bedeutung für die Interpretation seiner Werke war, und zumindest bei den Orgelwerken habe ich das auch oft genug persönlich erfahren, wie ein Stück plötzlich mit dem ganzen Leben erfüllt wurde, weil ich einfach mal gespielt habe, wie es im Urtext stand, wenn ich z.B. die linke Hand bei einem Akkord eine Achtel früher von der Orgel wegnahm als die rechte, und das Pedal noch eine weitere Achtel länger klang.

    Das führt jetzt aber langsam echt vom Thema "Gänsehaut-Feeling" weg (auch wenn ich beim Partiturstudium des "Sommer" gerade noch vor 6 Wochen eine Gänsehaut hatte, von den diversen Bach-Werken mal gar nicht angefangen ;-))

    Alles Liebe

    Toffi
     
  5. Toffi

    Toffi Strebt nach Höherem

    Oha, damit widerspreche ich aber natürlich nicht einem "improvisatorischen Charakter" selbst in Bachs Musik, mal angefangen von den enormen Verzierungsmöglichkeiten hin zu Kadenzen etc. - aber selbst in so Stücken wie den Orgel"fantasien" G-dur und g-moll ist melodietechnisch noch das kleinste Detail notiert, da gibt es den Tonraum betreffend nicht wirklich Freiräume, und das kann ich mir nicht denken, dass das in der damaligen Zeit anders war.

    Alles Liebe

    Toffi
     
  6. altruist

    altruist Ist fast schon zuhause hier

    Hallo Zusammen,

    auch wenn ich leider nicht auf Eurem hohen Niveau mitdiskutieren kann, möchte ich doch zwei Bemerkungen von Berufsmusikern zum Thema Bach/Vivaldi wiedergeben, an die ich mich erinnere.

    Einer von beiden, ein amerikanischer Organist, erzählte mir, er habe sich lange Zeit darüber gewundert, warum Bach sich die Mühe gemacht habe, italienische Werke abzuschreiben. Während eines Italienaufenthalts sei im jedoch klar geworden, dass darin doch etwas anderes verborgen liege, was auch Bach fasziniert haben müsse.

    Ein anderer, Leiter eines italienischen Barockorchesters, meinte: "Bach klingt auch dann noch gut, wenn man ihn schlecht spielt, der Komponist setzt sich immer durch. Anders bei Vivaldi, er klingt schrecklich, wenn man ihn nicht gut spielt". Bach ist meines Erachtens besonders Klangfarben-"unempfindlich" und kommt selbst als Klingelton noch als etwas Besonderes rüber.

    Ich denke, beide Komponisten markieren unterschiedliche Pole des gesamten musikalischen Reichtums. Die Instrumentierung mit Saxophonen, die ja alles andere als historisch ist, beleuchtet diese Werke wiederum von einer neuen Seite und ist eine Bereicherung, weil man den musikalischen Text neu wahrnimmt.

    Und welches davon der Gipfel des höchsten Kunstgenusses ist, das ist zum Teil eine subjektive Angelegenheit, und teilweise spielt die "Gunst der Stunde" mit. Es gibt halt Sternstunden, in denen das Einmalige passiert. Man kann sie nicht festhalten.

    LG Johannes
     
  7. ChristophBM

    ChristophBM Kann einfach nicht wegbleiben

    Da jeder von uns zu "Zusammen" gehört, Einspruch von meiner Seite: das einzige was ich hier an "Niveau" erwarte ist die ehrliche Schilderung von Wahrnehmung und die sachliche Argumentation, um persönliche Wertungen für andere so gut als möglich nachvollziehbar zu schildern, ohne damit apodiktisch sein zu wollen.

    Zur Sache: ich kenne mich mit Vivaldi nicht wirklich gut aus, Bach schon eher, und da finde ich allerdings den Satz ""Bach klingt auch dann noch gut, wenn man ihn schlecht spielt, der Komponist setzt sich immer durch." absolut treffend.

    Ich möchte noch hinzufügen: von Bach kann jeder Mensch allein durch Hören lernen wie Musik funktioniert, auch wenn er Musik nicht studiert hat, so musikalisch attraktiv und zugleich logisch funktional sind seine Kompositionen angelegt.

    Gruß, Christoph
     
  8. EdithM

    EdithM Ist fast schon zuhause hier

    Hallo Toffi, hallo Christoph,

    das macht gar nichts, dass eure Beiträge langsam vom Them "Gänsehautfeeling" wegführen, es ist einfach ein Vergnügen, euch "zuzuhören".

    Herzlichen Gruß

    Edith
     
  9. Toffi

    Toffi Strebt nach Höherem

    Es ist auch ein gewaltiges Vergnügen, mit jemandem wie Christoph Erfahrungen auszutauschen, auch mich hat das Lesen und Schreiben in diesem Thread außerordentlich bereichert, nicht zuletzt der Beitrag von dir, lieber Mr. Understatement altruist, der mir nochmal klar gemacht hat, dass Vivaldi, den ich supergern spiele und höre, den ich aber auch immer so im Schatten meines Mega-Super-Über-Vorbilds-Und-Genius-Und-Überhaupt Johann Sebastian Bach wahrnehme, in keinster Weise "schlechte" Musik komponiert hätte, er ist eben ein anderer Pol der Barockzeit, dessen melodischer Fundus empfindlicher ist als der des Größten der Großen, wie sollte es eigentlich auch anders sein?

    Gänsehaut-Feeling halt ;-)

    Alles Liebe

    Toffi
     
  10. LoveSupreme

    LoveSupreme Schaut nur mal vorbei

    Man darf dabei auch nicht vergessen, dass Bach selber sehr viel von Vivaldi hielt. Er hat auch Werke von ihm für Orgel bearbeitet. Sowie von Legrenzi und Marcello.
     
  11. altruist

    altruist Ist fast schon zuhause hier

    Na dann will ich mich mal ganz persönlich zum Gänsehaut Feeling outen:

    - Orgelphantasie von J. S. Bach, BWV 542 und Flötensonate in h-moll, BWV 1030, beim selber musizieren

    - Coda der Ecksätze der meisten Sinfonien von Anton Bruckner

    - Le Sacre Du Printemps von Igor Strawinsky; geht schon am Anfang beim Fagottsolo los; gibt' das eigentlich arrangiert für Saxophon Ensemble?

    - Hin und wieder mal gelingende Saxophon Improvisationen mit meinem Gitarre spielenden Bruder und meinem Gitarre spielenden Sohn

    - Ensemblespiel mit mehreren Saxophonen ;-)

    LG Johannes
     
  12. LoveSupreme

    LoveSupreme Schaut nur mal vorbei

    Bei mir Gänsehaut Feeling:

    Erster Chor aus der Matthäus Passion und Pastorale aus dem Weihnachtsoratorium.

    Turangalila Symphonie von Olivier Messiaen.

    und viele andere...
     
  13. altruist

    altruist Ist fast schon zuhause hier

    Hast Recht, es gibt noch viel mehr solcher Werke...

    Übrigens... cooler Avatar!
     
  14. Toffi

    Toffi Strebt nach Höherem

    @Love Supreme:

    100 % Zustimmung (brauche ich bei allen drei Beispielen nur das innere Ohr einzuschalten, schon gehen die Härchen hoch :))

    @altruist:

    Sacre du Printemps - was für eine gute Idee, gehe ich mal an die Arbeit!
    Und bzgl. Saxensemble können wir unsere Gänsehaut dann am 16.8. wieder warm einpacken, gelle?

    Gänsehaut-Feeling, das bei mir IMMER bis zum Heulen geht, übrigens bei

    Samuel Scheidt - Magnificat I Ton, wenn ich das spiele, MUSS ich beim Schlussakkord weinen, sonst war ich nicht ganz bei der Sache (okay, und wenn die Orgel nicht adäquat ist, reicht es auch nicht immer ganz...)

    und bei der Stimme von Christina Aguilera, fragt mich jetzt nicht, wieso...funktioniert aber immer...

    Alles Liebe

    Toffi
     
  15. Dexter

    Dexter Ist fast schon zuhause hier

  16. Gast

    Gast Guest

    Das ist alles sehr schön anzuhören :) . Esther Ofarim hatte ich total vergessen.
    Ich würde diese Liste gern erweitern, wenn ich's könnte! :-? :-

    Vieleicht ist ja einer von euch so nett und und fügt "Fillippa Giordano mit Casta Diva" ein.
    Oder erklärt mir, wie's funktioniert.

    Liebe Grüße Wattw.
     
  17. Gast

    Gast Guest

  18. Gast

    Gast Guest

    Danke Joe!
     
  19. GelöschtesMitglied3606

    GelöschtesMitglied3606 Guest

    Imagasy

    Das ist mein absoluter Favourite im Moment.

    Obwohl die Interpretation meiner Meinung nach zu wünschen lässt. Kommt meinen Vorstellungen aber am nächsten.
     
  20. Gast

    Gast Guest

    Inzwischen finde ich an diesem Thread deshalb großen Gefallen, weil so unterschiedliche Musik eingestellt wird. Nicht alles ist mein Geschmack, interessant aber allemal. Von mir aus können noch Hunderte Titel gepostet werden:)

    Gruß,

    Joe
     
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