Jazz, Gesellschaft, Politik und Gefühl

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von ppue, 18.Februar.2016.

  1. ppue

    ppue Mod Experte

    Um einen anderen Thread nicht zu sprengen und weil ich das Thema spannend finde und weil der kluge Mann gerade gestorben ist und weil er so enthuisiastisch reden kann:

     
  2. Gelöschte 11056

    Gelöschte 11056 Guest

    Ganz toll!
    Danke!!!
    Werde ich mir noch öfter ansehen.
    Nem
     
  3. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich dachte, vielleicht können wir die Diskussion aus diesem Frettchen: http://www.saxophonforum.de/threads/alone-together-mit-combo.26228/page-4#post-361860 hier fortsetzen.

    Was ist heutzutage "moderner" Jazz, gibt es noch neue Jazzstile, gibt es noch Innovatoren?

    Willemsen sagt ja, der Jazz wäre heutzutage so ein wenig auf der sicheren Seite, nicht mehr so experimentell, nicht mehr als gesamte Strömung zu erkennen und zum Teil museal, rückwärtsgewandt.

    Ich empfinde das genau so. Aber vielleicht ist es auch nur ein persönlicher Eindruck. Ich bin nämlich gar nicht auf der Suche nach neuen Formen und habe früher einfach viel mehr Jazz gehört.

    Rolands Youtube-Zitat mit Franz Koglmann gefällt mir schon gut. Da höre ich eine eigene Sprache, obwohl auch bei ihm vieles aus Anleihen älterer Jazzstile besteht und sozusagen diese fusioniert.

    Eine ganz eigene Sprache wie bei Eric Dolphy oder z.B. Anthony Braxton, die sogar eigene Harmoniekonzepte mitbrachten, höre ich selten. Vielleicht habt ihr aber Beispiele für zeitgenössischen Jazz, der ein wenig mehr "Aufbruchstimmung", wie Willemsen das nennt, mitbringt.
     
  4. CBlues

    CBlues Strebt nach Höherem

    Lieber ppue,
    danke für den Link.
    "Ich lasse mir meine Ohren nicht durch FormatRadio kontaminieren ! "
    Der ist gut ;)

    ... aber es gibt für alles eine Zeit oder auch nicht.
    Es muss nicht immer furchtbar verkopfte Musik sein, der Jazz muss sich auch nicht immer neu erfinden.
    Was wichtiger ist, ist doch der Kontext in dem ich die Musik konsumiere, oder ?
     
  5. saxoson

    saxoson Ist fast schon zuhause hier

    jajaj! Eine kreative Pause kann einen neuen Satz entwickeln...
    Ernst
     
  6. pth

    pth Ist fast schon zuhause hier

    Vielleicht liegt das daran, dass die heutigen, jungen Musiker das "sichere" Leben bevorzugen.
     
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  7. ppue

    ppue Mod Experte

    Ja, ich denke, das schwingt bei Willemsen mit, @pth.

    Keine Ahnung. Ich habe nie als Jazzmusiker gedient, wenn auch der Jazz meine liebste Musik ist. Ich empfinde die Aufbruchstimmung, von der Willemsen spricht, als den weniger verkopften Teil des Jazz. Aufbruchstimmung erlebe ich im New Orleans Jazz, im Bebop, auch in den Stilrichtungen der 50er und vor allem im Free Jazz. Alle mit durchaus unterschiedlicher Motivation. Weniger kommerziell zu sein oder neu erfinden muss nicht mit Verkopftheit einhergehen. Darf es aber auch. Wahrscheinlich macht es die Mischung, die mich inspiriert.

    Der Kontext, in dem ich Musik konsumiere, interessiert mich weniger als der Kontext, in dem ich als Musiker stehe. Auch wenn ich kein Jazzmusiker bin, sehe ich mich in der Tradition der Jazzer, die immer auch eine gesellschaftspolitische Rolle der Musik sahen.

    Finde ich ganz toll, wie Willemsen den Jazz als Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse sieht. Das ist Aufgabe einer jeden Kunst. Und nun lese ich noch mal den Satz von @pth und denke: Ja, vielleicht geht es uns zu gut, sind gesättigt, führen den Krieg zumindest nicht mehr vor der Haustüre und studieren Jazz an der Hochschule (verzeiht, werte Ausgebildete, ich war auch in so einem Laden).

    Aber ganz so problemlos leben wir in der zusammen wachsenden Welt auch nicht. Sind selber Auslöser großer Ungleichheiten in der Welt.

    Ich fände es schön, wenn die Jazzmusik diese Tradition des Aufzeigens von Ungerechtigkeit weiter behielte, nicht zum Selbstzweck verkümmerte und sich das Inside- Outsidespiel nicht lediglich auf Töne bezöge.
     
    giuseppe gefällt das.
  8. rbur

    rbur Mod

    ich denke eigentlich, die waren damals schon selten
     
  9. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    Moin,

    ich stell mal die provokante These auf, dass der Jazz, seit er Eingang in die Hochschulen gefunden hat seiner ursprünglichen revolutionären Energie weitgehend beraubt ist.

    Ein bisschen kann man davon im anderen thread lesen.

    Gruß,
    Otfried
     
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  10. ppue

    ppue Mod Experte

    Ja, das sehe ich genau so, Otfried.

    Weiß nicht. Albert Ayler hat weniger ein Harmoniekonzept, aber eine eigene Sprache jenseits aller Konventionen. Coltrane, hm, scheint mir die Sache systematischer und praktisch angegangen zu sein. Man hört ihn quasi üben: 1235-1235.

    Inside outside ist dazu gekommen, dazu eine Menge eigener Herangehensweisen. Überzeugende "neue" Konzepte höre ich selten.

    Mich interessieren schon immer die Mikrointervalle und die Musikgeschichte, die ich in der Eroberung des Obertonraumes nachzeichnen kann, legt nahe, dass man sich eigentlich den Mikrointervallen widmen müsste. Leider haben die Klassiker ihre Chance fürs erste verspielt. Ihre Vierteltonmusikexperimente starteten sie in eine Zeit, wo die Kunst sich von sich selbst abstrahierte und revolutionär sein musste.

    Vierteltöne oder andere Einteilungen der Oktave gibt es in vielen Kulturen, finden wir im Blues, in Indien und schon in der Türkei. Ich warte auf eine Musik, die die Funktionsharmonik nicht außer Acht lässt, die neuen Intervalle aber einbezieht.

    Die große Schwierigkeit besteht in unserem diatonischen Instrumentarium.
     
  11. pth

    pth Ist fast schon zuhause hier

    Apropos Mikrointervalle....weiß eigentlich jemand etwas über das Microtonal Festival in Berlin?

    Ich lese in euren Beiträgen viel über Vergangenes. Neues passiert aber jeden Tag. R.W. sagt dazu: "Macht euch frei", "Man muß die Anstrengung schultern, dann wird man reich beschenkt". Das ist sicherlich nicht einfach, dem Neuen sich zu öffnen. Aber es lohnt sich. Man will doch wachsen! Oder?
     
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  12. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Leider weiss ich nicht mehr, ob ich die Ausgaben habe ... in einer alten Ausgabe eines amerikansischen Saxophon-Magazins.

    Jedenfalls gab es da Mikrointervalle, die auf bestimmte Obertöne matchen mussten, war eine Herausforderung. Ich müsste das mal suchen.

    In einem anderen Fred wurde auch mal das Buch erwähnt:
    http://www.amazon.de/Tradition-Mikrotonale-Tonwelten-Musik-Konzepte-Sonderband/dp/3883777021

    Vielleicht hat das eine Stadtbücherei, kann man ja via Web-OPAC heruasfinden.

    Grüße
    Roland
     
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  13. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Saxophone Journal, Volume 29, Number 1, Page 5:
    "Ben Johnston's Music For Saxophone Quartet"
    Hat auch mit dem New Century Saxophone Quartet zusammen gearbeitet.
    https://en.wikipedia.org/wiki/Ben_Johnston_(composer)

    Aber mein Hinterkopf sagt mir, dass ich irgendwo auch mal Noten gesehen habe, die waren da nicht bei ... also vielleicht doch irgendwo in den 100 sonic-Heften, die frei in meinem Habitat zirkulieren ...

    Grüße
    Roland
     
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  14. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Kunst wächst, lässt sich nicht konstruieren und erst recht nicht planen. Das Aufregende liegt immer vor uns, nicht hinter uns. Jazz is not dead, and it DOES NOT smell funny, aber wie alle Sterne hatte er seine Geburt und erlebt sein allmähliches Verglühen in etablierten Strukturen zwischen Kommerz und Konsum.
    Gesellschaft hat immer wieder zum Verlassen von Gewohnheiten und Regeln, zum Ausbruch "eingeladen", auch und gerade auf dem Hintergrund von sozialer Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung, Ausgrenzung, Doktrin und Ideologie. Kunst ist die Perle, die aus dem irritierenden Sandkorn in den Weichteilen wächst, sie wächst nicht im Sattsein und auf der Couch und auch nicht iaus der Intellektualität und dem Schöngeist, eher aus dem Schmerz und seiner Kompensation und Thematisierung.
    Auch wenn er so gar nicht klingt wie B.B.King: der großartige Robert Wyatt singt den Schmerz und den Blues so unnachahmlich "weiß" und authentisch, dass man es glatt Kunst nennen möchte mit seiner von Hanns Dieter Hüsch ausgeliehenen Schweineorgel und dem kindlich anmutenden, den Kastraten der Barockzeit geklauten Falsett.
    Ich habe Willemsen sehr gemocht und gehört, und er konnte virtuos kulturelle Verflechtungen analysieren und zeigen, dass Intellektualität auch Lust bereiten kann, wenn er sie so schon aufgeregt präsentierte.
    Ist es nicht spannend, dass wir noch nicht ahnen können, welche Bedingungen eine neue "große" Kunstrichtung ins Leben rufen werden, die aber unweigerlich kommen wird? Ich persönlich glaube nicht, dass es in der Musik im Aufbrechen unserer Intervallstruktur geschehen wird, obwohl es eigentlich nach der seriellen Musik die logische Entwicklung weg vom "Gegenständlichen" unserer funktionalen Harmonik und des diatonischen Systems wäre. Das würde dann zu sehr "l'art pour l'art" werden, fürchte ich.
    "Helfen" könnte, dass die anstehende und gerade begonnene Völkerwanderung aus durch Klimawandel und politische sowie ökologische Hegemonie gebeutelten Kontinenten unsere Kultur nachhaltig und tief beeinflussen wird, und dazu zählt sicherlich auch eine andere Musik mit ethnologischen und folklorististischen Elementen.
    Vielleicht sollte ich mich doch dereinst einfrieren lassen......
     
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  15. GelöschtesMitglied4288

    GelöschtesMitglied4288 Guest

    Ich finde schon, dass man immer wieder aufbrechende Formen entdecken kann. Ein Bekannter von mir, Antonio Borghini, lebt genau aus diesem Grund in Berlin. An kleinen, eher versteckten Orten, meistens in Wohnungen, die kurzerhand zu Kneipen umgebaut wurden, oder in alten Fabriken, kann er in dieser Stadt Musik machen, die er so in Italien nicht machen kann, weil er einfach keine Leute darfür findet und wohl auch kein Publikum. Und dabei ist es ihm echt wichtig.


    Tobias Delius, Saxophonist, ist auch einer, der immer wieder andere Formen sucht. Hier noch eher brav... :)


    Schön, dass sich beide in Berlin dann gefunden haben ;)


    Das Ganze heisst dann "New Jazz".
     
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 19.Februar.2016
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  16. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    @jazzwoman

    Hmmhhhh....aber neue Entwicklungen, neue Wege sind das ja nicht, oder? Die scheinen das ja auch schon länger so zu machen, wenn man ihr Alter berücksichtigt.

    CzG

    Dreas
     
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  17. rbur

    rbur Mod

    Wir sind hier irgendwo, wo sich nur noch durch das Vorhandensein von Noten unterscheiden lässt, ob es sich um Jazz handelt oder um Neue Musik.
     
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  18. ppue

    ppue Mod Experte

    Wir sind hier beim klassischen Freejazz deutscher Prägung. Eigentlich der erste stark europäisch geprägte Jazzstil. Aber immerhin schon über 40 Jahre alt.

    Viele der Musiker nannten es später freie Musik und fürwahr gibt es Annäherung an die Neue Musik. Mal bewusst, mal unbewusst.
     
  19. ppue

    ppue Mod Experte

    Danke, @pth für das Microtonale Festival. Genau solche Anregungen suche ich.



    Eine Spezialklarinette zeigt für mich das derzeitige und schon länger bestehende Problem. Spielen wir mit ungewöhnlichen Sounds oder gar Vierteltonmusik, so taucht sie immer nur "abstrakt" auf. Dem Laien wird bei dieser Performance gar nicht auffallen, dass er hier völlig neue Intervalle hört. Zwölftonmusik wäre für ihn genau so abstrakt.

    Mit abstrakt meine ich eine Musik, die sich nicht der Funktionsharmonik bedient, die, fast zwanghaft, harmonische Intervalle, Akkorde, Skalen und Kadenzen ausschließt. Ein Zwang, modern zu klingen, so wie es ihn auch in den 70ern den Zwang unter den Freejazzern gab, nur keine erkennbaren Themen oder Formen zu spielen.

    Mir fehlt da ein evolutionärer Übergang in der Art, wie ihn der Bebop gschafft hat. Während die Neue Musik abstrakte Zwölftonkompositionen schuf, hat der Bebop die chromatischen Töne in eine erweiterte harmonische Auffassung integriert. Etwas Ähnliches stelle ich mir nun mit Mikrointervallen vor.

    Gerade erst gelesen, danke @Roland. Das ist genau, was ich suchte:

     
    GelöschtesMitglied4288 gefällt das.
  20. EstherGe

    EstherGe Ist fast schon zuhause hier

    naja, das ist eine grundsätzliche Sache. Man studiert irgendetwas und meint dann - ich kann alles - aber man hat nur "Grundlagen" gelehrt bekommen. Für alles, was man wirklich gut machen möchte, braucht man Erfahrung und die bekommt man eben nicht im Studium, sondern diese muss ich er-leben, das braucht Zeit und Anstrengung.

    Und ich meine auch, dass es uns im Allgemeinen (von Einzelschicksalen mal abgesehen) wirklich zu gut geht, als dass wir wirklich tiefe Gefühle wie Freude, Trauere, Entsetzen ect. reflecktieren können.
    In unserer Gesellschaft ist ja eher die Flucht vor und das Ignorieren von Problemen angesagt. Und aus der Vogelstraßposition ist es schwer Musik zu machen :p

    In dem Zusammenhang fallen mir immer Flamencotänzerinnen eine - wie schön, wenn eine wunderschöne junge Frau da ein Tänzchen hinlegt - aber ein richtig guter wird von einer gestandenen Frau getanzt und es ist egal wie sieh aussieht, der Ausdruck, das Gefühl welches sie übermittelt das ist entscheidend. Sie reflecktier das gelebte Leben - ihre Erfahrungen im Leben.

    I
     
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