Katastrophen-Klassik mit "Portsmouth Sinfonia" Das schlechteste Orchester der Welt

Dieses Thema im Forum "Musiker / Bands" wurde erstellt von Werner, 10.April.2019.

  1. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    In den 80iger Jahren gab es, ausgehend vom Frankfurter "sogenannten linksradikalen Blasorchester" in Deutschland und angrenzenden Ländern eine ganze Ansammlung von Blasmusikkapellen, die den Dilettantismus zum Prinzip erhoben. Ich habe auch zu Beginn in einer solchen Kapelle gespielt, das war eine wunderbare Zeit. Auf Demos, Karneval und allen möglichen Straßenfesten mal mit, mal mit weniger politischem Bezug haben wir unser Nichtkönnen präsentiert.

    Das tollste waren dann die sogenannten Bläsertreffen, wo sich bis zu 200 Bläser zusammenfanden und mörderisch viel Krach gemacht haben.

    Schon die Namen waren vielsagend:
    "Oh Schreck blas nach"
    "Lauter Blech"
    "Rote Note"
    usw.

    Alle diese Kapellen hatten irgendwann das Problem, dass sie zu gut wurden für das eigentliche Prinzip. Die meisten haben sich dann aufgelöst, andere sich davon gelöst und spielen bis heute.

    Gruß,
    Otfried
     
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  2. kokisax

    kokisax Strebt nach Höherem

    Schau aber, daß aus Inspiration nicht zu viel Transpiration wird......:D
    Grüß mir die Oberkrainer !

    kokisax
     
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  3. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich finde das Wort Dilettantismus in diesem Zusammenhang falsch. Auch ist das linksradikale Blasorchester nicht der Ausgangspunkt in den Achtzigern.

    Ausgangspunkt ist der amerikanische Free Jazz in den 60ern, die darauf folgende und aufbauende "Frei Musik" in Europa, speziell in den Niederlanden (Instant Composers Pool) und in Deutschland (Free Music Production) Mitte der 70er. Der Free Jazz war stark politisiert und ebenso war es der europäische, allerdings in eigener Ausformung.

    Mit der Freien Musik gab es erstmals seit dem New Orleans Jazz wieder Kollektivimprovisationen. Das Kollektiv als kreative, politisch-kulturelle und soziale Alternative zu den hierarchischen Strukturen des damaligen Establishments war nicht die Idee Einzelner, sondern entsprang der soziokulturellen Situation nach der 68er-Revolution in den frühen Siebzigern.

    Man lebte im Kollektiv (Kommunen), man arbeitete im Kollektiv (alternative Betriebe entstanden) und man demonstrierte kollektiv. Einer grunddemokratischen Auffassung folgend spiegelt auch die Musik dieser Jahre wieder, dass der Gemeinschaft einen höheren Stellenwert zu kam als z.B. musikalische Virtuosität oder Perfektion.

    Folglich arrangierten wir die Stücke für unserer Orchester nicht rein nach musikalischen Kriterien, sondern schrieben die Stimmen so, dass auch weniger erfahrene Musiker in der Lage waren, ihren Part zur Komposition beizutragen. Und das hat mit Dilettantismus weniger als mit einer solidarischen und toleranten Grundhaltung zu tun.

    In der Kapelle, die ich Mitte der 70er Jahre maßgeblich mitgründete, haben wir heute noch diese Einstellung.

    Auch beim Portsmouth Sinfonie Orchester würde ich nicht von Dilettantismus sprechen, da ja ausschließlich ausgebildete Musiker spielen. Sie haben die Dynamik, das Timing, das Notenlesen und kollektive Musizieren voll drauf, beherrschen lediglich nicht das Instrument, welches sie spielen.
     
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  4. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    @ppue
    mir scheint, wir sprechen von verschiedenen Dingen.
    Dilettantisch heisst ja: laienhaft, nicht fachmännisch

    Und so waren diese Ensembles, auch das "sogenannte linksradikale Blasorchester". Anfänger, Laien, die entweder gerade anfingen mit einem Instrument, oder nach langer Zeit wieder zu dem Schülerinstrument griffen, oder ein gänzlich anderes Instrument als das gewohnte spielten.

    Mit Free Jazz oder gar Kollektivimprovisationen hatten die/wir damals gar nix am Hut. Es gab Noten von Eisler, Weill, Nino Rota u.a. an denen wir uns abarbeiteten.

    Ja, Breuker und Konsorten waren irgendwie auch Vorbilder, und später dann gab es auch mal jazziges. Wie gesagt, die Gruppen wurden besser und verließen das dilettantische Prinzip irgendwann.

    Der sozio-politische Anspruch war auch, zumindest bei uns viel weniger ausgeprägt als du das schilderst, auch wenn wir natürlich über die Musik hinaus dann zusammen feierten, soffen und uns zofften. Der allgemeinpolitische Anspruch hingegen war allgegenwärtig, zumindest bei einigen Ensembles, die sogar so weit gingen zu sagen, dass man nicht nur aus Spaß an der Freud Musik machen dürfe, und jede Veranstaltung höchst kritisch auf ihren revolutionären Charakter hin ausleuchteten. Ach, das war lustig, ich muss heute noch darüber schmunzeln.

    Gruß,
    Otfried
     
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  5. ppue

    ppue Mod Experte

    Nein, wir sprechen von ein und demselben Ding

    Heiner Goebbels und Alfred Harth (Gründer des SLB) als Laienmusiker zu bezeichnen, ist schon eigenartig. Mag ja sein, dass ihr das dann in den Achtzigern adaptiert habt. Dass aber das Laienhafte, der Dilettantismus, bewusst ausgestellt wurde, ist mir nicht bekannt.
     
  6. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    Nee, die beiden natürlich nicht, das waren die Gründer und Leiter des Orchesters. Aber, soweit ich mich erinnere versammelten sich ansonsten nur Laien in dem Orchester, und die beiden Leiter machten das auch zum Prinzip. Müsste ich mal schauen, ob ich die LP noch irgendwo finde, wo das im Begleittext so stand.

    Das Ensemble, welches ich dann hörte und sofort begeistert einstieg war jedenfalls genau diese Mischung aus absoluten Anfängern und Leuten, die durchaus auch schon Musik machten, aber meist auf einem anderen Instrument.

    Gruß,
    Otfried
     
  7. ppue

    ppue Mod Experte

    Genau das entspricht ja dem Kollektivgedanken, der (Jeder ist ein Künstler) nicht zwischen dem Profi und dem Laien unterscheidet, sondern versucht, alle zu integrieren.

    Zugespitzt würde ich sagen: Jeder ist ein Musiker, aber nicht alle sind Dilettanten (-:
     
  8. Rick

    Rick Experte

    "Ein Dilettant (von italienisch dilettante, Partizip Präsens aus dilettarsi, von lateinisch delectari „sich erfreuen“, „sich ergötzen“)[1] ist ein Liebhaber einer Kunst oder Wissenschaft, der sich ohne schulmäßige Ausbildung und nicht berufsmäßig damit beschäftigt.[2] Als Amateur oder Laie übt er eine Sache um ihrer selbst willen aus, also aus Interesse, Vergnügen oder Leidenschaft und unterscheidet sich somit von einem Fachmann. Dabei kann er vollendete Kenntnisse und Fertigkeiten erlangt haben; solange er die Tätigkeit nicht beruflich bzw. für seinen Lebensunterhalt ausübt oder eine anerkannte einschlägige Ausbildung absolviert hat, gilt er als Dilettant."

    Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dilettant

    Es ist schade, dass sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes vom leidenschaftlichen Liebhaber umgangssprachlich zum stümperhaften Nichtskönner geändert hat.
    Ich persönlich kenne viele Dilettanten im Sinne von Nicht-Profis, die trotzdem auf hohem Niveau musizieren, ich spiele mit vielen sehr gerne zusammen. Vom Profi unterscheiden sie sich oft wirklich nur noch durch das Fehlen der Notwendigkeit des Geldverdienens, die aber uns Berufsmusiker oft auch einengt und begrenzt, weil wir zur Bestreitung des Lebensunterhalts manchmal Sachen tun müssen, die wir nicht wirklich musikalisch wollen (z. B. in meinem Fall Schlager oder auch manche Pop-Gigs).
    Wenn Dilettanten Projekte starten, die unkommerziell ausgerichtet sind, einfach weil sie es nicht nötig haben, damit Geld zu verdienen, ist das oft ein großer Gewinn für die Musik als Kunstform.
     
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  9. Rick

    Rick Experte

    Ich musste da eher an die urkomischen Performances von "Jonathan and Darlene Edwards" denken, die allerdings beide hochqualifizierte Musiker waren, sie, Jo Stafford, als Sängerin ein unumstrittener Star, er, Paul Weston, ein erfolgreicher Bandleader und Pianist - bis sie mal aus Spaß vor Freunden total daneben spielten und sangen, was dann noch beliebter wurde als ihre normalen Darbietungen.

    Hier mal eine der berühmtesten Aufnahmen, "Take The A Train" massakriert:



    Sie haben zwar keine Instrumente gespielt, die sie nicht beherrschten, aber aufgrund ihrer professionellen Erfahrung einfach alles daneben gehen lassen, was eben so passieren kann: falsche Töne, schlechte Rhythmik, verpasste Einsätze.... Und sage keiner, dass er so etwas nicht schon mal in irgendeiner Weise live erlebt hat! :lol:
     
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  10. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    @ppue
    Was mich zu dem Vergleich gebracht hat, war, dass diese Ensembles, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann irgendwann Probleme bekamen mit dem Fortschritt der Mitglieder.

    Die anfängliche Unbefangenheit ließ sich nicht beliebig aufrecht halten.

    Genau, wie in dem Text über die "Portsmouth Sinfonia" am Ende gesagt wird, dass sie irgendwann einfach zu gut waren.

    Gruß,
    Otfried
     
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  11. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Müsste eigentlich ganz einfach sein, einfach nochmal das Instrument wechseln.



    https://swing-jazz-berlin.de/sorano-solo/
     
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  12. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich kenne solch ein Ensemble nicht.

    @Rick: Danke für die Begriffsbestimmung. Sehr interessant, Trifft aber dennoch nicht auf die Musiker der Kapellen zu, die ich meine.

    Wenn die Gutbürgerlichen, wenn nicht noch aus höheren Kreisen stammend, dilettierten, dann ist der Gedanke "Jeder ist ein Künstler" eigentlich das Gegenteil dessen. Es war eine neue Art von Volkskunst, in der Amateure und Profis zusammen Musik gemacht haben. Und die Bands haben sich eher gefreut, je besser sie wurden.
     
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