Über den Umgang mit Kritik

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von Juju, 10.April.2015.

  1. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Nachdem ich gerade die letzten zwei Kommentare im TOTM gelesen habe, dachte ich, vielleicht ist das Thema einen eigenen Thread wert.
    Beide Kommentare kann ich total nachvollziehen. Ich bin gerade mitten drin, das Big Band Album zur Veröffentlichung fertigzumachen. Und dazu habe ich es gewissermaßen seziert. Und wenn man es mit dem Producer-Ohr anhört, wird man extrem gnadenlos, so geht mir das jedenfalls. Und gerade im Jazz fällt mir der Unterschied auf zwischen der Perfektion, die man erreichen kann, wenn man die Aufnahmen taktweise zusammenstückelt, jede Ungenauigkeit rausschneidet und ersetzt, die Solos sämtlichst overdubbt etc... oder wenn man ein paar Takes in einem Raum macht, alle zusammen, inclusive Solos, und dann mit dem nicht so perfekten Ergebnis lebt. Viele moderne Alben klingen so wie jemand aussieht, der/die beim Schönheitschirurgen war :D
    Nachdem ich extrem viele Aufnahmen von meinen Lieblings-Alben dann als Referenz angehört und verglichen habe (mit dem gleichen strengen Producer-Ohren), stellte ich fest, dass die ebenfalls alle keineswegs perfekt sind, aber sie sind "alive", der Funke springt über, und ich denke, das liegt daran, weil die halt höchstens ein oder zwei Takes gemacht haben. Wenn es mehr ist, verliert sich die Spielfreude, die Spontaneität, die bei den Solos so wichtig ist, geht verloren. Ich werde akzeptieren müssen, dass nicht alles perfekt ist, aber mir fällt es leichter, das zu akzeptieren, nachdem ich erkannt habe, dass meine Vorbilder auch nicht perfekt sind. Und bei denen stört mich das im Übrigen kein Stück!

    Das mit den dicken Patzern, was Xcielo sagt, finde ich auch interessant. Volles Risiko vs. totale Sicherheit - ich weiß, was ich lieber höre ;) Ganz eindrucksvoll bei Cannonball zu hören - er spielte immer völlig auf Risiko, und ja, da ist so mancher kleiner Stolperer dabei aber hätte er immer auf Sicherheit gespielt, hätten wir nie solche Hammersolos zu hören bekommen :)
    In der Regel, und je nach Studio/ Konzertsituation wird es wohl auf einen Kompromiss herauslaufen, was Risiko vs. Sicherheit angeht.

    Ich persönlich habe ein großes Problem, mir meine Aufnahmen anzuhören, ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird. Dave hat ebenfalls ein großes Problem mit seinen Alben. Die mag er sich gar nicht anhören. Wenn irgendwo zufällig in seiner Anwesenheit eine Aufnahme von ihm läuft, würde er am liebsten im Boden versinken. Meine eigenen Aufnahmen kann ich ziemlich gut so verreißen, dass nichts mehr davon übrig bleibt. Die Negativ-Liste wäre endlos, die Positiv-Liste wäre sehr kurz. Trotzdem versuche ich über meinen Schatten zu springen und in erster Linie Spaß zu haben! Gelingt auch in letzter Zeit immer besser ;)

    Kritik von Kritikern in irgendwelchen Zeitschriften/Zeitungen kann ich nicht immer so ganz ernst nehmen. Spätestens nach einem 5 Star Review in einer hochrangigen britischen Zeitung, die sich auf einen Gig bezog, wo Dave's Hauptaufgabe darin bestand, auf der Bühne Eier aufzuschlagen und ab und zu in einen EWI zu tuten, was dann in den Augen/Ohren der Kritiker total innovativ etc war... Ein "Mainstream" Album, wofür sich die Künstler ihr Leben lang den Allerwertesten abgeübt haben, um musikalisch dahin zu kommen, wo sie jetzt sind, wird aber gerne völlig ignoriert...

    LG Juju
     
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  2. Rick

    Rick Experte

    Liebe Juju,

    Du hast mir mit jedem Wort aus dem Herzen gesprochen, exakt ebenso geht es mir auch, ich kann jeden Deiner Sätze unterschreiben.
    :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup:

    Schöne Grüße,
    Rick
     
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  3. Tinka

    Tinka Ist fast schon zuhause hier

    Selbstkritsch zu sein ist sehr wichtig, denn nur dann kann man an sich arbeiten und sich auch verbessern. Aus Fehlern lernt man, aber nur wenn man sie auch erkennt.
    Fehler und Patzer beim spielen gehören dazu und passieren jedem, auch den Profis und nicht nur beim üben sondern auch bei Auftritten. Das ist aber menschlich und macht die Darbietung, meiner Meinung nach noch lebendiger und interessanter. Ausserdem weiss man so, das auch Profis nur Menschen sind ;)
    Jeder der etwas veröffenlticht, was er selbst gemacht hat, verdient hochachtung und respekt. Auch und grade dann wenn man sich dazu ehrlich äussert, ob lobend oder kritisch.
    Wer was veröffentlicht muss sich im klaren darüber sein, das er vielleicht nicht nur Lobgesänge für seine Darbietung bekommt, sondern evt. auch kritsche Töne die helfen sollten sich zu verbessern.
    Wer keine Kritik verträgt oder hören will, sollte dann besser nichts veröffentlichen...........
    Ich persönlich freue mich immer darüber, wenn jemand etwas veröffenlticht, egal wie es klingt. Das gemeinsame zählt doch und nicht das man besser sein muss wie die anderen :D
     
  4. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    Ich glaube, dass es auch wichtig ist mit seinem Streben nach Perfektion sich selbst nicht im Wege zu stehen.

    Ich kann Perfektion anstreben, aber ich sollte wissen, dass sie nie erreichbar sein wird und das auch im Nachinein akzeptieren.

    Sonst traut man sich immer weniger, weil man ja fehlerlos,"perfekt" spielen will.

    Darüberhinaus bin ich noch der Überzeugung, dass, wenn es sie gäbe, eine perfekte Darbietung/Aufnahme langweilig klingen würde....

    Mit dieser Einstellung geht man dan auch vielleicht gelassener mit Kritik um.

    CzG

    Dreas
     
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  5. kokisax

    kokisax Strebt nach Höherem

    Ach Juju,
    hätt ich nur DEINE Fehler beim Spielen......:rolleyes:

    Es geht übrigens auch vielen berühmten Schauspielern so, dass sie sich ihre Filme nicht anschauen können....

    Sonnige Grüsse vom Bodensee
    kokisax:applaus:
     
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  6. antonio

    antonio Gehört zum Inventar

    ich wüsste eigentlich nicht, warum Feher und Fehlerchen machen beim Musik Spielen verurteilenswert sein sollte. ich wurde noch nie gerügt, weil ich beim Sprechen den Satz nochmals beginnen musste, Stolperte usw. Etwas mehr "Reallife" bei der Musik wäre oft sehr wünschenwert - gerade, wen ich mir gewisse CDs anhöre. Diese Perfektheit ist ja nicht zum aushalten...:)

    antonio
     
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  7. kokisax

    kokisax Strebt nach Höherem

    Life is live !

    kokisax;)
     
  8. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Moin!

    Irgendwie ist etwas in mir, das hofft, nie 'perfekte' Musik hören zu müssen. Vielleicht gehören Fehler einfach dazu, mensch zu sein. Wenn Musik menschlich sein soll, dann muss sie auch Fehler enthalten.

    Oder, wie ein Prof es ausdrückte im Grafik/Design-Studium meiner Frau: 'Zur Schönheit fehlte ihr nur noch der Makel.'

    Immerhin muss man sich vor Augen ... äh ... Ohren halten: Das, was man da spielt, das können 99.9% aller Leute nicht. Musik machen ist ein Weg. Das Ziel, nach dem wir streben, werden wir niemals erreichen, nach jedem Gipfel schaut an weiter und am Horizont ist der nächste Berg. Vielleicht ist es das, was Sartre meinte mit 'Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen menschen vorstellen.'

    Ich versuche immer bei meine Aufnahmen zu hören: Was war gut, was nicht so gut, und freue mich, wenn ich hinter den Fehlern die Musik höre, die ich versuchte zu machen. Ach ja.

    Grüße
    Roland
     
  9. antonio

    antonio Gehört zum Inventar

    Bei Musik sehe ich dass ganz ähnlich wie in der Fotografie - dauernd wird über das letzte Pixel gestritten, dieses und jenes Objektiv sei noch besser uswusw.
    Alle diese Leute machen meistens ziemlich gewöhnliche Fotos(oder noch schlimmere). Meine fehlerbehafteten, randunscharfen, lightleakgetrübten gefallen mir immer am Besten und meist sind es Unikate - also so was wie improvisiert.

    antonio
     
  10. Gelöschtes Mitglied 1142

    Gelöschtes Mitglied 1142 Guest

    Ein wunderbarer thread und ganz tolle Beiträge!
    Ich möchte auch etwas dazu beisteuern. Eine Aussage von Michael "air" Jordan, dem wohl besten Basektballer aller Zeiten.

    "Ich habe in meiner Karriere über 9000 Mal daneben geworfen.
    Ich habe über 300 Spiele verloren.
    26 Mal habe ich versagt, als mir der letzte und alles entscheidende Wurf anvertraut wurde.
    Ich bin erfolgreich!"

    Ist das nicht herrlich? Wie oft dürfen wir mal nen Halbton daneben liegen?

    Wie Roland so schön schrieb:
    Sonnige Grüße aus dem Nordschwarzwlad
    Bernd
     
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  11. ehopper1

    ehopper1 Strebt nach Höherem

    Ich beneide die Profikollegen nicht, vor allem nicht jene, die in einem klassischen Orchester einen Solopart haben. Der muss ja zu 99 % sitzen. Fehler oder Abweichungen sind da ja fast tödlich.

    @Bernd:
    Super das mit "Air" Jordan.
    Wusste ich gar nicht!

    Live versuche ich immer mein Bestes zu geben.
    Dabei locker zu bleiben fällt mir wahnsinnig schwer.
    Oft bin ich sowieso selbst am wenigsten zufrieden.
    Vor allem wenn ich an einer Stelle einen reinhaue, der da niemals hingehören kann, auch nicht bei einer Improvisation.
    Das setzt sich dann richtig in mir fest, selbst wenn der Rest des Konzerts prima gelaufen ist.

    Ich hatte auch schon Auftritte, da lief es von Anfang an schlecht. Da war ich froh, wenn alles vorbei war.

    Ich hatte in letzter Zeit sehr positive Kritiken bekommen. Anstatt mich darüber zu freuen umtreibt mich die Sorge, dass irgendwann mal wieder ein ganz gehöriger Dämpfer kommt, so quasi als Ausgleich. Das ist doch verrückt, oder?

    Andererseits spornen mich schon kleinere Unsicherheiten immer an, noch mehr zu üben, was ja auch wieder positiv ist. Wobei ich da wieder Angst habe, irgendwann an ein Limit zu kommen, über das ich nicht mehr hinaus kann. Ist ebenfalls verrückt, oder?

    Aber vielleicht sollte ich einfach versuchen, mich mehr an Michael Jordan zu orientieren. ;-)

    Lg
    Mike
     
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  12. Nordstern

    Nordstern Ist fast schon zuhause hier

    Hi!
    Ich kann eigentlich recht gut mit Kritik umgehen, das liegt daran, dass ich mich recht gut selbst einschätzen kann und weiß, wo meine Schwächen liegen.;)

    Entscheidend für mein Wohlbefinden ist allerdings wie Kritik vorgetragen wird!
    Ist sie rücksichtslos, frech, niedermachend, oder konstruktiv, also wohlwollend. :)

    Liebe Grüße,
    Nordstern
     
    Zuletzt bearbeitet: 10.April.2015
  13. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Kann ich nur dreimal dick unterstreichen. Wenn wir ernsthaft musizieren, gehen wir aus uns heraus, sind außer uns, sind verletztlich und geben ein Teil unserer Seele preis. Dabei sind und bleiben wir doch immer Narzisten, die eine Antwort auf die in die bewusst und gewollt in die Welt geworfene tönende Frage erhoffen. Gleichzeitig sind wir peinlich berührt von der Begegnung mit dem "ich" und sind unsere ärgsten Kritiker. Das hat übrigens überhaupt nichts mit dem "objektiven" Können zu tun: es trifft alle mehr oder weniger. Wenn dieses Phänomen bei jemandem fehlt, ist er mir irgendwie suspekt.
    Bei einem recht bekannten Rundfunk-Moderator sah ich mal in seinem Studio zuhause über dem Mischpult ein überlebensgroßes Foto-Portrait von ihm selbst. Da war ich aber dann auch peinlich berührt..... Das wurde nur noch getoppt von Cristiano Ronaldo, der mit seiner Reaktion bei der Preisverleihung zum Weltfußballer irgendwo breitbeinig zwischen Fußballgott und Testosteron-Bolide landete.
     
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  14. dabo

    dabo Strebt nach Höherem

    @ alle Berufsmusiker. Es ist schön zu hören das auch im Profibereich unterschiedlich mit Kritik umgegangen wird und die Sorgen derjenigen einmal zu versagen ist total nachvollziehbar.

    Für mich als Amateur hat alles eigentlich gut angefangen. Ich war bereits glücklich wenn ich keine Falsche Note gespielt habe. Man war ich naiv. Und jetzt ein paar Jahre später weiß man wie andere klingen und wie man selber klingt. Ich bin zwar schon besser geworden als damals aber leider auch viel selbstkritischer. Je länger man spielt umso stärker hört man auch seine Fehler.

    Was ist denn jetzt besser??? Glücklicher ist bestimmt der der nicht weiß was er falsch macht und einfach nur spielt. Wir haben einige junge Musiker in unserer Kapelle. Junge haben die Spaß wenn die mal ein Solo spielen dürfen. Und wenn sich das für die meisten nicht toll anhört sind diese Solisten einfach nur stolz auf sich selbst dass sie es geschafft haben keinen Fehler zu machen. Wenn ich so ein Solo höre bin ich total neidisch wie unbeschwert und selbstbewusst die das machen.

    Ich wünsche jedenfalls allen eine Portion dieses jugendlichen Selbstvertrauens zurück!

    LG
    Dabo
     
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  15. Wuffy

    Wuffy Gehört zum Inventar

    Jegliche Art von Kreativität (also nicht nur bei der Musik) ist naturgemäß mit Kritik veknüpft.

    Und jegliche Kritik wiederum mit persönlichem Geschmacksempfinden...das ist nun mal so...und eine absolut normale Sache

    Gibt es überhaupt objektive Kritik ??

    Entscheidend wohl auch, wer kritisiert...kann der selbst was, versteht der was oder motzt er nur, weil er es eben selbst nicht besser kann.

    Lgr Wuffy
     
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  16. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    Wuffy, man muss es nicht selbst können, um substantiell kritisieren zu können, man sollte aber was von der Sache verstehen, die man kritisiert....
     
  17. Wuffy

    Wuffy Gehört zum Inventar

    @Dreas

    Danke für die hinweisende Kritik :)

    ..aber genau das schrieb ich doch..."versteht der was "

    Also Kritik abgelehnt ;) besser lesen oder Brille auf:)
     
  18. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    Ich hatte

    "kann der selbst was, versteht der was"

    als eine Aussage verstanden...wohl missverstanden...

    Insofern gibt's nix zu kritisieren....

    CzG

    Dreas
     
  19. Nordstern

    Nordstern Ist fast schon zuhause hier

    Ja, bisschen verrückt ist das schon.
    Musst dran arbeiten....sonst wirst verrückt, irgendwann. :)
     
  20. Wuffy

    Wuffy Gehört zum Inventar

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