Wie konnte Charlie Parker so lange üben?

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von Paul2002, 14.Juli.2019.

  1. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Ich habe die Russell-Biographie vor einem Jahr gelesen und bin verärgert, wie viele Details ich mir nicht gemerkt oder schon wieder vergessen habe...

    Gerade nachgeschaut: mit 15 war Charlie Profi, hat geheiratet und wurde Vater, was allerdings keinerlei Einfluss auf seinen Lebensstil hatte. Seine Mutter hatte jetzt zusätzlich noch eine zunehmend verärgerte junge Ehefrau (19) mit kleinem Kind zuhause. Der Sohn, der die Hochzeit durchgesetzt hatte, war eher selten da.

    Weiter steht da zu seiner Überei: "Meanwhile Ch. stuck doggedly to his practice regimen. He completed the cycle of 12 major scales, running the gamut from C through B natural, and back to his starting point. That done he proceded to learn the blues in each of the 12 keys... usw"

    Ich frage mich allerdings, woher Russell diese Einzelheiten der Überei wissen will. Sie kannten sich noch lange nicht. Über die KC- und die NYC-Zeit muss er sich woanders informiert haben. Ging das aber so detailliert? Ich glaube, dass er faktentechnisch sehr großzügig gewesen ist, um sich und sein Buch interessant zu machen, um Parker passend zu präsentieren - als musikalisches und als menschliches Ausnahmetier nämlich.
     
    Zuletzt bearbeitet: 16.Juli.2019
    Rick und Claus gefällt das.
  2. Tröto

    Tröto Ist fast schon zuhause hier

    Boing, ich behaupte das Gegenteil:
    "Um die Probleme mit dem Vater auszugleichen, verwöhnte sie ihr Kind nach Strich und Faden. 'Seine Mutter hat ihn so behütet', erzählt der Bassist Gene Ramey, 'dass er genau dasselbe von jedem sonst auf der Welt erwartete." (Quelle: Wolfram Knauer: Charlie Parker, Seite 17)

    Ich glaube, wir lesen zu viele Biographien oder Sachbücher über Jazz und seine Musiker, die mit viel zu vielen Anekdoten, Geschichtchen und Halbwahrheiten garniert sind, um bei uns wohlige Gefühle auszulösen. Das beziehe ich jetzt gar nicht speziell auf Dich, Rick, dazu habe ich überhaupt keinen Grund.
    Herrn Knauer will ich zudem auch nicht unterstellen, zu solchen Autoren zu gehören, die derartige Bücher schreiben. Immerhin nennt er ja einen Weggefährten von Parker als Quelle.
     
    Otfried und Claus gefällt das.
  3. Pil

    Pil Strebt nach Höherem

    Möglicherweise war er ein herzensguter Mensch, ein Perfektionist und Workoholiker. :)

    Seine musikalischen Motive könnte man sich annähern wenn man seine Lines regelmäßig in die Hand nimmt.
    Die Scales sind Mision Imposibel.

    Langsamer ging es wohl auch.
    Parkers Mood könnnte ich in fünf Jahren oder übermorgen verstehen.
    Perfekt ist was anderes. Vielleicht hört jemand die Freude am Üben raus.
    Sowas von affengeil.. übt man doch gerne freiwillig. Bis man sowieso niemals mit sich selbst zufrieden ist:p

    LG
    Pil
     

    Anhänge:

    Rick gefällt das.
  4. Rick

    Rick Experte

    Nun, das ist aber kein Widerspruch zu der als gesichert geltenden Tatsache, dass Charlie bereits als Teenager Berufsmusiker war und deshalb nicht mehr viel Zeit zu Hause bei seiner Mutter verbrachte (von seiner eigenen Familie mal ganz abgesehen, die dann auch noch seine Mutter an den Hacken hatte, wie ja @gaga erwähnt und was wohl auch als gesichert gelten kann). Er wird also nicht wie von einigen Mitforisten vermutet viel Zeit mit Hausarbeit verbracht haben. ;)
    Und als Berufsmusiker war er zwangsläufig viel mit seinem Sax beschäftigt. Und wenn sein Tagesablauf damals noch nicht so rigoros war wie der von mir erwähnte der Musiker in New York, wird er wahrscheinlich in seiner freien Zeit auch tüchtig geübt haben, denn von nichts kommt nichts. :cool:

    Dass Bird mehr oder weniger von allen erwartete, dass sie Rücksicht auf ihn nehmen, ihm alles durchgehen lassen und ihn im Zweifelsfall auch "behüten", ist von vielen seiner damaligen Weggefährten bestätigt worden.
    Das kann auf die Verwöhnung durch seine Mutter schließen lassen, die wie erwähnt geldverdienstbedingt wenig Zeit für ihren kleinen Sohn hatte und dieses Defizit dann durch übermäßige Fürsorge zu kompensieren versuchte.
    Das ist ja oft eines der Hauptprobleme in der Kindererziehung, was mal wieder an Watzlawicks berühmten Ausspruch erinnert: "Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut." :rolleyes:

    Mag sein, dass er einige Dinge etwas überspitzt hat. Dass Parker allerdings sehr fit auf dem Sax und in der Akkordlehre war, kann man ja auf seinen Aufnahmen hören. Und als musikalisches Ausnahmetier galt er auf jeden Fall in den 1940ern, das musste Russell auch nicht erfinden.
     
    altoSaxo, ppue, Pil und 2 anderen gefällt das.
  5. Frosch1972

    Frosch1972 Kann einfach nicht wegbleiben

    Er hatte keinen PC im Proberaum stehen;-)
     
    Philippe, ppue, Pil und einer weiteren Person gefällt das.
  6. Saxoryx

    Saxoryx Strebt nach Höherem

    Hat er ja nicht. Er ist mit 35 gestorben und hatte den Körper eines 60jährigen oder sogar noch älteren, kranken Menschen, so kaputt war alles. Klar, die Drogen, aber sicherlich auch sein generell obsessives Verhalten z.B. bezüglich des Übens hat sicherlich dazu beigetragen. Er war eben ein Süchtiger in jeder Beziehung, und dann brennt man, wie man im Englischen sagt, die Kerze von beiden Enden ab und ist schon in jungen Jahren entweder verrückt oder tot. Die sogenannten "Frühvollendeten". Das klingt immer so positiv, aber ist es das wirklich? Wollte irgendjemand von uns so ein Leben haben? Und dann schon mit 30 oder 35 tot sein? Bzw. vom Drogenrausch nur noch dahinvegetieren?

    Sich so etwas als Vorbild zu nehmen ist doch eher kontraproduktiv. Sich einen Süchtigen zum Vorbild zu nehmen ist generell kontraproduktiv, denn das bedeutet ja, man will auch süchtig sein. Das ist aber nicht gerade sehr erstrebenswert. Also wäre es doch besser, sich jemanden zum Vorbild zu nehmen, der ein besseres Vorbild ist als Charlie Parker. Was ja nicht heißt, dass man das, was er dann musikalisch geleistet hat, nicht würdigen kann und daran und damit und davon lernen kann. Nur eben sich einen Junkie zum Vorbild zu nehmen und zu meinen, 10 oder 15 Stunden am Tag zu üben wäre erstrebenswert und man wäre sozusagen "schlecht" oder "faul", wenn man das nicht tut, das sollte man doch nicht machen.

    Viel wichtiger ist doch, systematisch zu üben und vor allen Dingen gezielt. Klar bringt es durchaus auch was, wenn man einfach nur so rumdaddelt, und wenn das Spaß macht, dann ist es sowieso besser als jedes erzwungene Übungskonzept, aber wenn jemand jeden Tag 30 Minuten systematisch übt, hat er davon sicherlich mehr als von mehreren Stunden im Drogenrausch zu hyperventilieren. Und wenn man die Zeit und die Lust hat, mehr zu üben, noch besser. Aber ich finde, wenn man es schafft, jeden Tag 30 Minuten zu üben, dann kann man sich schon ordentlich auf die Schulter klopfen. Da ich das nicht schaffe, kann ich mir leider nicht auf die Schulter klopfen ;), aber ich kenne so ein süchtiges Verhalten wie das von Charlie Parker von dem anderen kreativen Teil meines Lebens durchaus. Da kann ich auch stundenlang am Stück gar nicht mehr aufhören und merke kaum, wie die Zeit vergeht. So habe ich oft auch schon viel geschafft, aber wirklich gesund ist das nicht. Insbesondere wenn man älter wird. Das hat Charlie Parker ja gar nicht erst ausprobiert. Aber kann sich jemand einen 80jährigen Charlie Parker vorstellen, der immer noch 15 Stunden am Tag spielt? Wohl kaum. Weil das eben nur geht, wenn man von vornherein gar nicht plant, alt zu werden. Ist natürlich eine persönliche Entscheidung. Die hat er getroffen, und die muss man respektieren.

    Jetzt, wo ich älter werde, merke ich auch, dass mein "süchtiges" Verhalten nicht mehr so einfach durchzuhalten ist, wenn ich das mal wieder will. Allerdings habe ich dafür noch nie Drogen gebraucht. Ich kann kreativ sein, ohne mich mit irgendwelchen Dingen vollzuknallen. Ich trinke noch nicht mal Alkohol. :) Auch das muss man mal berücksichtigen. Was bedeutet das, wenn man sich so mit Drogen vollstopfen muss, um irgendetwas leisten zu können? Das lasse ich mal so stehen. Darauf hat jeder selbst seine eigene Antwort.

    Da nimmt man sich doch lieber diesen alten Herrn hier als Vorbild, Aubra Graves:


    Der hat bestimmt auch viel in seinem Leben geübt, aber er ist weit über 90 und lebt immer noch und kann Anfänger wie mich motivieren, ebenfalls an so einem Ton und so einer wunderbaren Art zu spielen zu arbeiten. Charlie Parker motiviert mich da in keiner Weise. Das ist alles viel zu hektisch und heroinrauschig. Dann lieber über 90 werden und so spielen wie Aubra Graves.
     
    Rick und GelöschtesMitglied11578 gefällt das.
  7. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Das ist echt ne steile These! Das bedeutet, dass nicht nur einzelne Figuren aus der Jazzgeschichte, sondern ganze Stilepochen als Vorbild schaffend herausfallen. Alle meine Vorbilder aus jeder Zeit waren zumindest über große Strecken ihres Schaffens Alkoholiker und/oder Junkies. Muss ich mir jetzt Sorgen machen?
     
    Kristina Bossanova, Juju, Silver und 3 anderen gefällt das.
  8. hiroaki

    hiroaki Ist fast schon zuhause hier

    Ja natürlich!

    Wenn Du die passenden Drogen nimmst, wirst Du so gut wie Deine Vorbilder. Dafür stirbst Du auch früher.
    Wenn Du keine Drogen nimmst, wirst Du zwar älter aber nie so gut wie Deine Vorbilder.

    Ein Teufelskreis :eek:
     
    gaga und Dreas gefällt das.
  9. saxhornet

    saxhornet Experte

    Es geht doch nur um die musikalischen Inhalte, keiner hier strebt danach ebenfalls Drogen wie Parker zu nehmen oder so lange zu üben (oder so viel Hühnchen zu essen). Und musikalisch oder künstlerisch kann man sich durchaus auch mal an Jemandem orientieren, der ein Suchtproblem hatte, denn es geht ja um den künstlerischen Output, nicht die Sucht. Und von dem künstlerischen Output kann man sich ja immer inspirieren lassen und das als Vorbild haben oder toll finden ohne die Sucht übernehmen zu müssen. Süchte gab es schon immer in allen Bereichen und bei sehr vielen berühmten Künstlern, ob nun Literatur, Kunst oder Musik.......
    Nicht schön, auch weil viele der Künstler dadurch auch gar nicht ihre volle Schaffenskraft entfalten konnten und oft auch jung oder zumindest an ihrer Sucht und deren gesundheitlichen Folgen starben.
     
    Kristina Bossanova, Pil, gaga und 3 anderen gefällt das.
  10. Maggs

    Maggs Kann einfach nicht wegbleiben

    Charlie Parker war ein genialer Musiker, seine Drogensucht ein Handycap. Er war hochtalentiert und besessen. Das heißt: Saxophon üben bis zu Abwinken. Viele Stunden täglich - sein Drang, sein Bedürfnis. Das hat aber nichts mit Drogensucht zu tun. Seine Musik als "heroinrauschig" zu bezeichnen, nur weil ich sie möglicherweise nicht verstehe oder nicht mag, finde ich einigermaßen respektlos. Mich beschäftigt Birds Musik seit 35 Jahren. Sie ist ein prägender Einfluss und täglich präsent. An Heroin und anderen Schitt denke ich dabei nicht. Natürlich ist Charlie Parker ein Vorbild - musikalisch! Persönlich habe ich ihn leider nicht kennengelernt. Im Übrigen: Aubra Graves, tolle Tenor-Ballade, kann man sich auch ne Scheibe abschneiden, um musikalisch zu wachsen.
     
  11. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Stimmt, Charlie Parker hat wirklich nicht wahnsinnig gut Tenor gespielt.
    Da hatte sogar Brecker an der Klarinette Vorteile.
     
    quax und Dreas gefällt das.
  12. Rick

    Rick Experte

    Das möchte ich aber nicht unterschreiben!
    Tatsächlich war ja Parker nicht WEGEN, sondern TROTZ seiner Sucht so gut, das darf man nie vergessen. Und wie schon @Atkins erwähnte: Im Rausch (egal wovon) MEINT man, gut zu spielen, doch man tut es nicht unbedingt. :-D

    Im besten Fall kann man seinen Rausch einigermaßen unter Kontrolle halten, sodass man nicht von der Bühne fällt oder zumindest aus dem Stück (habe ich alles schon gesehen, in meinen jungen Jahren war es geradezu üblich in der Musikszene, unter Drogen (Alkohol, Grass, Speed, Koks usw.) aufzutreten).

    Als ich dann nach einem einjährigen Führerscheinentzug (warum wohl?) wieder selbst fahren durfte, nahm ich mir fest vor, mich NIE WIEDER berauscht ans Steuer zu setzen, und blieb dementsprechend auch während der Auftritte "trocken" (weil ich ja wieder nach Hause fahren musste).
    Dies nahm ich allerdings als wahnsinnig entspannend wahr, weil ich nicht mehr so viel Kraft dafür aufbringen musste, konzentriert zu sein und den Faden nicht zu verlieren. Tatsächlich konnte ich musikalisch alles umsetzen, was ich wollte, und zwar viel besser und sauberer als im Rausch.

    Deshalb meine These: Ohne Drogen hast Du sogar die Chance, BESSER zu werden als manche Deiner Vorbilder! ;)
     
    Maggs, saxhornet, Juju und 3 anderen gefällt das.
  13. Dreas

    Dreas Gehört zum Inventar

    @Rick

    Selbst auch schon gemerkt. Ein, zwei Kölsch vor dem Auftritt entspannen und machen locker.

    Ab dem vierten Kölsch glaubst Du selbst Du spielst immer besser, vor allem goile Soli......leider bist Du der Einzige, der das glaubt.....:lol:

    CzG

    Dreas
     
    Pil, gaga und Rick gefällt das.
  14. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    @Rick: Du hast offenbar die Ironie in Hiroakis Post überhört. Er hat das Künstler<->Drogen-Klischee in zwei kurzen Sätzen beschrieben. Er ist sicher genau deiner Meinung...
     
    Rick gefällt das.
  15. Rick

    Rick Experte

    Habe ich mir auch schon gedacht, dass es Ironie war. Sein Beitrag war aber nicht als "Ironie" gekennzeichnet, deshalb wollte ich für die geneigten Mitleser klarstellen, wie es sich in der Realität verhält.
    Man glaubt ja gar nicht, wie viele Sax-Interessierte, auch junge Leute, hier gelegentlich reinschauen, ohne sich jemals im Forum angemeldet zu haben - ich weiß allein von vier meiner Schüler, dass sie sich recht regelmäßig hier und anderswo im Internet Tipps holen...

    Das Thema der harten Drogen (= extrem schwer abhängig machend) ist meiner Ansicht nach zu ernst und wichtig, um damit flapsig und unklar umzugehen - was wiederum keine Kritik an @hiroaki darstellen soll, ist nur eine allgemeine Bemerkung zur gesellschaftlichen Verantwortung der Forenbeiträge.
     
    gaga und Atkins gefällt das.
  16. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Ohne deine Aussage relativieren zu wollen, ist Alkohol eine harte Droge. Unsere früh verstorbenen Helden hatten ALLE zusätzlich zum Heroin noch das branchentypische Alkoholproblem, die meisten anderen hingen halt "nur" am Alkohol.
     
    Rick und saxhornet gefällt das.
  17. Pil

    Pil Strebt nach Höherem

    Die dargestellte schwache Trinkfestigkeit ist kein Beweiß kein Alkoliker zu sein.
    :pint:
    LG
    Pil
     
  18. Pil

    Pil Strebt nach Höherem

    Mutmaßlich ging es bei Charlie Money or Live.
    Die Musikgeschichte erzählt bis heute von "Stars" die verheizt wurden.

    Heutzutage würde man formulieren, warum hat keiner sein BurnOut verhindert?
    Heute könnte man aufgeklärter sein.
    Könnte!
     
  19. last

    last Strebt nach Höherem

    Der hat immer live gespielt..
     
    quax gefällt das.
  20. gefiko

    gefiko Strebt nach Höherem

    Zwei der Großen melden sich zu Wort:




     
    Rick gefällt das.
  1. Diese Seite verwendet Cookies, um Inhalte zu personalisieren, diese deiner Erfahrung anzupassen und dich nach der Registrierung angemeldet zu halten.
    Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies.
    Information ausblenden