"Muskelgedächtnis", Mythos oder Wahrheit

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von Wanze, 6.Dezember.2025 um 12:15 Uhr.

  1. Wanze

    Wanze Strebt nach Höherem

    Hallo miteinander,

    es wird ja im Forum oft zitiert, das Muskelgedächtnis. Gerne auch in Gänsefüsschen, "Muskelgedächtnis"... wohl um anzudeuten dass es das gar nicht gibt. Oder zumindest, dass man nicht so recht daran glaubt.

    Hmmm... also bei mir ist das so: wenn ich tatsächlich schnell spielen will (so schnell ich es eben kann) dann stört das Gehirn nur. Wenn das anfängt dazwischen zu funken, gibt es ein Durcheinander.

    Wie ist das aus eurer Sicht? Gibt es ein Muskelgedächtnis? Eigene 'Empirik' oder tatsächlich wissenschaftliche Studien?
     
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  2. bthebob

    bthebob Strebt nach Höherem

    @Wanze
    Aus meiner Sicht und Erfahrung gibt es das.

    Wie man das -Kind- nennt, ist mir schnuppe.
    Wissenschaftliches Pro oder Kontra, mir egal.

    Ich hab's dieser Tage wieder erlebt.
    Nach vierzehntägiger Saxpause (notgedrungen wegen angeschlagener Gesundheit)
    waren manche Läufe nicht mehr 100% ok.

    Langsames Herantasten brachte nicht den Erfolg.

    Erst als ich's in meinem normalen Tempo probierte,
    war dieses mysteriöse Gedächtnis wieder erwacht. :)

    VG
     
  3. tehjay

    tehjay Kann einfach nicht wegbleiben

    ...kann hierzu keine Empirik liefern aber gesunden Menschenverstand:

    Von was sprechen wir? Ich würde sagen wir sprechen hier von Automatismen, die ohne bewusste Reflektion / Überlegung / bewusstes Handeln ablaufen. Diese Automatismen haben wir als Neubewohner unserer Körper (im Sinne Maschinen) gar nicht. Durch permanentes üben bauen wir diese Automatismen ständig weiter aus, oder denkt hier noch einer drüber nach wie er es anstellt vom Tisch zum Sofa zu kommen? Das Steuerungssystem dazu ist das zentrale Nervensystem, deshalb gefällt mir auch der Begriff "etwas im Rückenmark zu haben" besser als "Muskelgedächtnis". All in all finde ich vor diesem Hintergrund das als Mythos darzusellen etwas reisserisch;)....
     
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  4. khayman

    khayman Ist fast schon zuhause hier

    Wenn ich Klavierstücke, die ich vor 40 Jahren intensiv geübt und gelernt habe, aufschlage, dann kann ich vieles noch halbwegs gut spielen, die Finger "wissen" wo sie hinmüssen, auch grosse Sprünge oder schnelle Läufe funktionieren, ohne dass ich darüber nachdenken muss.
    Das geht aber nur, wenn ich die Noten vor mir habe.

    Ich spiele aktuell wenig Klarinette, habe es aber (auch vor 40 Jahren) mal intensiv gemacht. Da bin ich auch noch halbwegs sicher bei vielen Griffen.

    Und ich habe (auch vor 50-40 Jahren) viel Blockflöte gespielt, Sopran und vor allem Alt.
    Jetzt kommt das Saxophon, die Griffe sind ja wie bei der Flöte..... es wird besser, aber anfangs habe ich vor allem bei einem notieren "A" gerne ein "E" gespielt.... ist auf der F Flöte halt so und steckt wohl noch in meinen Fingern drin.
     
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  5. quax

    quax Gehört zum Inventar

    Der Begriff wird unterschiedlich benutzt.
    Im Sport geht es im Wesentlichen um
    https://www.deutschesportakademie.de/blog/muscle-memory
    In unserem Kontext geht es aber um das Erlernen von bestimmten Bewegungen, vergleichbar dem Erlernen einer Schrift.
    Gibt Untersuchungen, werde ich jetzt im Notdienst nicht im Netz nach kramen.
    (Nur um ggfs suf eine Bezahlschranke zu stoßen.)
    Eigentlich geht's ums Hirn, das mit seinen Resourcen durchaus haushalten muss.
    So wie wir uns idR und erfreulicherweise nicht daran erinnern können, welche Nummernschilder wir gestern alle gesehen haben, werden auch einmalige oder seltene Bewegungsmuster erstmal nicht als wirklich bedeutend angesehen.
    Das ändert sich, wenn Bewegungen ernsthaft trainiert werden und damit als wichtig markiert. Nach gewisser Zeit laufen solche Bewegungen "automatisch" ab, als hätte unser Kopf damit nichts zu tun. Hat er natürlich schon, aber wir müssen nicht mehr groß überlegen.
    Diese Wissen um die Bewegung bleibt auch lange erhalten und ist dann reproduzierbar.
    Fahrradfahren verlernt man nicht.
    Kann durchaus hinderlich sein, wenn solche Muster mal durchbrochen werden müssen.
    Siehe <gerade Achtel><Swingachtel>.
    Und auch einer der Gründe warum Instrumentalunterricht dringend empfohlen wird, bevor sich Falsches verfestigt hat und nur mit Aufwand auszutreiben ist. Wenn überhaupt.
     
  6. Blofeld

    Blofeld Ist fast schon zuhause hier

    Feststehen dürfte jedenfalls, dass dieses Gedächtnis nicht in den Muskeln steckt, sondern in tieferen Bereichen des Gehirns. Jemand hier Neurolog:in? Interessantes Thema jedenfalls.
     
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  7. Alex_Usarov

    Alex_Usarov Ist fast schon zuhause hier

    Ja, das kommt bei mir hin und wieder vor).
    Aber was Du zu greifen hast, damit ein C erklingt, wusstest Du schon?).
    Ich denke, etwas, was man unveränderlich und oft verwendet, wird für lange Zeit (für immer?) eingeübt. Alles, was sich regelmäßig wechselt, wird auf andere Weise eingeübt und bedarf nach ne gewisse Zeit eine Auffrischung. Du spielst ja nicht nur ein Stück, nehme ich an. Aber Du verwendest immer die gleichen Griffe.
     
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  8. Blofeld

    Blofeld Ist fast schon zuhause hier

    Der von @quax verlinkte Artikel beschreibt Muskelgedächtnis als das schnelle Wiedererstarken nach Trainingspausen. Was wir hier diskutieren, wird dort unter dem Begriff „motorisches Lernen“ gefasst.
     
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  9. Florentin

    Florentin Strebt nach Höherem

    Das ist bei mir auch so. Ich spiele seit gut 20 Jahren täglich zum Einspielen gewisse Routinen (Tonleitern, Arpeggien, kurze Stücke), auswendig, z.T. auch mit Metronom. Das ist reines Muskelgedächtnis. Die Finger scheinen zu wissen, was sie tun müssen. Ich kann dabei an ganz andere Dinge denken, vermutlich könnte ich Zeitung lesen dabei. Oft weiß ich gar nicht mal, bei welcher Tonleiter ich jetzt gerade bin.

    Doch wenn ich beginne, bewusst darüber nachzudenken, reißt der Flow ab und ich komme raus oder es wird holprig.

    Das Gehirn hat viele verschiedene Regionen (ich bin leider kein Fachmann, aber soviel ist wohl bekannt). "Bewusst nachdenken" betrifft eine "höhere" Region. Die brauche ich für diese Routinen nicht, die stört nur (vermutlich weil sie zu langsam ist). Aber auch die motorischen Routinen werden ja von wo gesteuert. Wo genau diese Regelkreise geschlossen werden wäre sehr interessant.
     
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  10. giuseppe

    giuseppe Gehört zum Inventar

    Natürlich gibt es das Muskelgedächtnis, nur dass es wie schon gesagt nicht im Muskel sitzt. Und auch nicht im Rückenmark, auch wenn die schöne Redewendung unterstreicht, dass man Dinge, die man motorisch sehr gut kann, nicht mehr in jedem Detail bewusst ausführen muss.

    Der präzisere Begriff wäre wohl „motorisches“ Gedächtnis (beziehungsweise Langzeitgedächtnis). Ist halt unüblich.

    Musikalisch lebe ich enorm davon. Egal ob Ansatz, Tonleitern, Akkordbrechungen. Da ist doch zum Glück etwas auf der Festplatte. Es gibt ein paar Late Bloomer in meinem musikalischen Umfeld. Ein paar spielen echt ordentlich, müssen aber viel dafür arbeiten, sodass ich oft vermeide, über das Übepensum zu plaudern. Naja, offensichtlich habe ich den Kram auch mal geübt, der dann heute dafür etwas schneller in den Fingern landet (ist ja trotzdem nicht geschenkt).
     
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  11. Lillisax

    Lillisax Kann einfach nicht wegbleiben

    Wahrheit!

    meine Erfahrung dazu:
    nach über 20 Jahren hatte ich wieder eine Querflöte in der Hand .. das Spielen nach Noten ging ohne Probleme. Es war eine Klappenflöte.

    in meiner Jugend habe ich aber auf einer klappenlosen Flöte (sog. Trommelflöte) gespielt im Spielmannszug - die ganzen alten Gassenhauer, jahrelang und immer wieder ;-)
    Diese konnte ich auf der Klappenflöten nicht erinnern - dann nahm ich aber eine alte Trommelflöte in die Hand und konnte ich per sofort einige der alten Titel aus dem Gedächtnis spielen.

    Heißt für mich, der Kopf brauchte die Haptik des Instruments.

    LG Lilli aus dem fast hohen Norden
     
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  12. TootSweet

    TootSweet Ist fast schon zuhause hier

    Wenn es das motorische Gedächtnis nicht gäbe, könnte man wohl kaum brauchbar blind auf einer Tastatur schreiben.
     
  13. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Test:
    Steh' auf und gehe ein paar Schritte.
    Wenn Du nicht dauernd darüber nachdenken musst, was Du als nächstes tust und wie und einfach Schritte gehen kannst, dann hast Du Muskelgedächnis.

    Die Transferleitung zu Auto Fahren, Saxophon Spielen und Kickboxen sein dem geneigten Leser als Übung überlassen.

    OK, etwas übertrieben, aber si grobdie Richtung. Ich muss nicht nachdenken, wie ich einen A-DurAkkord aufm Klavier greife, das habe ich quasi in den Fingern.

    Grüße
    Roland
     
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  14. Silver

    Silver Gehört zum Inventar

    Eine der schlüssigsten Abhandlungen übers Erlernen und Verfestigen komplexer Abläufe versteckt sich in diesem Standardwerk für Motorradfahrer:
    https://amzn.eu/d/3BLaXrg

    Bernt Spiegel war nicht nur ein anerkannter Könner auf dem Krad und als Trainer sondern auch Psychologe und Hochschullehrer, wusste also, wovon er da geschrieben hat.

    Eine sehr schöne Formulierung von ihm ist die, dass neue Tätigkeiten bewusstseinspflichtig sind, bis sie in die Tiefenpersönlichkeit abgesunken sind. Damit ist das „Muskelgedächtnis“ und andere stark automatisierte Abläufe für mich gut beschrieben.

    Fahrradfahren, Zähneputzen, Fis Dur … alles irgendwann nicht mehr bewusstseinspflichtig, wenn man es lange genug geübt hat.

    Die ungerade Hälfte des Buches sind sehr spezifisch für Menschen, die auf zwei Rädern schnell sein wollen.
    Die gerade Hälfte beschäftigt sich mit Lernen, Verfestigen und auf den Punkt Abrufen von Fähigkeiten.
    Bildlich gesprochen, versteht sich.
     
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  15. DiMaDo

    DiMaDo Ist fast schon zuhause hier

    Es GIBT eine Art Muskelgedächtnis.

    Ich hab in meinem ersten Leben meinen Lebesnunterhalt mit Programmieren erworben.
    Hauptsprache: Pascal. Natürlich hab ich mich auch mal vertippt - aber nie mit einzelnen
    Buchstaben sondern ganzen Wörtern. Dinge wie begin, repeat, until, while etc. haben
    meine Finger nicht mehr als einzelne Buchstaben aufgefasst. Und das definiere ich
    als Muskelgedächtnis.

    Genau so geht es mir am Klavier. Mein Hirn sagt meiner Hand Cm7 - meine Hand
    macht C-Eb-G-Bb. Ohne nachzudenken.
     
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  16. Woliko

    Woliko Strebt nach Höherem

    Nach dem, was ich als Laie hier und in den hier genannten mir zugänglichen Quellen verstanden habe, sind das Kleinhirn und das Rückenmark das Muskelgedächtnis, wenn sie durch nachhaltiges Üben entsprechend programmiert sind; sie steuern bei entsprechenden Triggern die Muskeln unmittelbar auf kurzem Wege an und veranlassen die abgespeicherten Abläufe, ohne dass noch zeitaufwendig kontrollierend nachgedacht werden muss.
     
  17. visir

    visir Gehört zum Inventar

    Jedenfalls örtlich tiefer...

    Langzeitgedächtnis = Großhirn würde ich für zu langsam halten.

    Ich hielt es bisher für Allgemeinwissen, dass das Kleinhirn das "Bewegungszentrum" ist, und das Rückenmark für Reflexe zuständig ist - so habe ich es jedenfalls in der Schule gelernt. Hab grad nachgelesen: scheint immer noch so zu sein. Also die Zuständigkeiten, nicht das Allgemeinwissen. ;)

    Ich hab nie Maschinschreiben unterrichtet bekommen, schreibe aber mittlerweile blind - nach Jahrzehnten an der Tastatur weiß das Kleinhirn einfach, wo die Tasten sind...
    Das Dilemma, eine schon automatisierte Tonfolge wieder bewusst zu spielen (weil man irgendwas ändern will oder muss), kenne ich auch - man muss das zumindest teilweise neu lernen, und dann ja gegen den "Widerstand" des Kleinhirns, das ja "schon weiß, wie es geht"... man muss das dort "neu verdrahten".
     
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  18. quax

    quax Gehört zum Inventar

    Wenn man gekonnt prima vista spielt, kommt man am Großhirn leider nicht vorbei.
    Wenn ich einen Brief, hier besonders handschriftlich, verfasse, reicht das Kleinhirn
    knapp nicht. Ich würde die Großhirnrinde auch nicht als langsam bezeichnen.
    8x7=?
    Für die Antwort hat's nicht lange gebraucht.
    In sinnvollem Zusammenhang gibt es eine Signalkette zwischen verschiedenen Arealen. Das motorisch erlernte will schließlich sinnvoll eingesetzt werden.
     
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  19. visir

    visir Gehört zum Inventar

    Aber langsamer als das Kleinhirn. Alles relativ.

    Aber länger als für die Bewegung zwischen Fragezeichen- und Enter-Taste. Über diese hast Du natürlich gar nicht nachdenken brauchen, das hat das Kleinhirn eben einfach so gemacht.

    Dass Kleinhirn, Rückenmark und Großhirn völlig getrennt voneinander agierten, hat aber auch niemand behauptet.
     
  20. giuseppe

    giuseppe Gehört zum Inventar

    Ich bin kein Neurologe. Aber ich denke alles, was das Bewusstsein streift, nimmt ein bisschen Großhirnrinde mit (dieses gefaltete große Leintuch, das uns von den meisten anderen Tieren unterscheidet und einfach zusätzlich zu den wirklich lebenswichtigen Kontrollzentren in 3-facher Größe drauf gepackt wurde).
    Wenn es nur der Gedanke „fis dur“ ist, und der Rest kommt wirklich nur aus dem Kleinhirn, dann hat man vermutlich gut genug geübt. :)
     
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