Elitäre Kunst

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von ppue, 17.April.2015.

  1. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Ist das wirklich so? Ich hab ja mal (auch) Literaturwissenschaft studiert, und wie geht es mir jetzt z. B. mit dem von bebob erwähnten Gedicht von Ernst Jandl?

    http://www.lyrikline.org/de/gedichte/schtzngrmm-1230#.VTjEaDf1G1E

    Ich muss mich erst einmal auf das Gedicht einlassen, also wenn ich nur den gedruckten Text vor mir habe, akzeptieren, dass da keine Wörter im üblichen Sinn stehen. (Aus dem Grund könnte man fragen, ob das hier elitäre Kunst ist.) Da hab ich vielleicht einen Vorteil gegenüber jemandem, der sich in der Literatur nicht so gut auskennt. Ich kenne ja solche Lautgedichte schon von den Dadaisten. Dann muss man sich einlesen, d. h. daraufkommen, dass der Text laut gelesen werden muss. Gut ist hier, dass wir den Autor selber beim Rezitieren anhören können.

    Dass schtzngrmm "Schützengraben" heißt, muss ich herausbekommen, sonst verstehe ich nichts von dem Gedicht. (Da sind nicht die Literaturwissenschaftler im Vorteil, sondern die Österreicher und Bayern.) Die bittere Ironie, die in dem Gedicht steckt, wirkt auf mich genauso wie auf andere Leute.

    Natürlich könnte ich mir noch schlaue Gedanken darüber machen, warum Jandl gerade ein Lautgedicht als Antikriegsgedicht geschrieben hat, vielleicht Adorno zitieren usw. usf., aber eigentlich ändert das nichts an meinen Gefühlen, wenn ich das Gedicht höre.

    LG Helmut
     
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  2. ppue

    ppue Mod Experte

    Literatur studiert zu haben, bedeutet ja eher, die Formen zu erkennen, die literarischen Bausteine, Versmaß, Genre, die Dramaturgie. Das entspricht in der Musik dem Erkennen der Instrumente, des Rhythmus, des Stils, des harmonischen Aufbaus und und und.

    Um ein komplexeres Musikstück zu analysieren, harmonische oder melodische Feinheiten zu entdecken, muss ich mich auch hinsetzen. Dann kann ich auch sagen, warum was wie wirkt.
     
  3. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Aber ja doch, lieber Bebop. Es ist doch traurig, dass die Schulen es leider nicht mehr schaffen (können?), den Schülern diese Kunst der Mathematik näher zu bringen. Ich habe es geliebt, Gleichungen mit mehreren Unbekannten zu lösen und bei Ableitungen zu erleben, welches wunderbares Bild die verschiedenen Graphen von komplexen Kurven hin zu Geraden vollzogen. Was ich nicht geliebt habe, war, dass diese Kunst dann unter dem Stress einer Prüfungssituation reproduziert werden musste. Da habe ich oft versagt.... Schulen prüfen ja zu 90% nicht Begabung und fördern Talent, sondern evaluieren Stressfähigkeit, und das sagt ein ehemaliger Lehrer.... Schon sind wir wieder bei ppues "Spielen". Der alte lateinische Name "schola" heißt ja "Muße", also Freizeit und damit Spiel. Was würde unsere Kultusministerkonferenz dazu sagen? "Die spinnen, die Römer. Lasst uns daran arbeiten, aus G8 schnell G7 zu machen, damit wir in noch kürzerer Zeit angepasste Facharbeitskräfte an den Arbeitsmarkt bringen können." Weiter so.... .
     
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  4. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Exakt, lieber ppue. Der Künstler darf, er muss aber nicht für seine Kunst arbeiten. Heute Morgen beim 30-minütigen Dudeln wurde mir bewusst, dass bei der Ganztonleiter alle Quarten Tritoni (= übermäßige Quarten oder analog in anderen Skalen verminderte Quinten sind, und diese Quarten auf- und abwärts gespielt sich spiegeln. So etwas muss ich mir nicht lang erarbeiten, ob ich es allerdings noch vor meinem Ende schaffen werde, so etwas als "selbstverständliche Sprache" in Improvisationen unterzubringen? Ich arbeite dran, kann aber nix garantieren.
     
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  5. Gast_13

    Gast_13 Guest

    Helene Fischer ist ein gutes Beispiel. Die Fans träumen von "Atemlos durch die Nacht" und stolpern doch nur "Ahnungslos durch den Tag" ;-)
    Die Gedichte von Jandl finde ich köstlich, wenn ich sie denn als Nicht-Österreicher verstehe:

    lichtung
    manche meinen
    lechts und rinks
    kann man nicht velwechsern
    werch ein illtum

    Mit dem schtzngrmm hatte ich Probleme. ;-)

    Aber es kann sich tatsächlich in jeder Profession Kunst entwickeln - zumindest für die eingeweihten Spezialisten, sei es in Mathematik, Physik, in den Rechtswissenschaften, Medizin, Ingenieurswesen oder schlicht z.B. der Klempnerei.

    Für mich als Ingenieur in der Gebäudetechnik ist es auch eine Kunst, ein hydraulisches System einer Anlage so aufzubauen, dass nur noch die aller notwendigsten Bauteile eingebaut werden müssen, damit die Anlage perfekt funktioniert, also ohne Overkill von Ventilen, Reglern und Gedöns, die man im Grunde nicht benötigt, aber dem Planer ein Gefühl von Sicherheit geben (und das Honorar ansteigen lassen).

    Von daher hat Kunst - im Sinne der Kunstfertigkeit - schon was elitäres, da es eine Spezialisierung in einer Profession erfordert.
     
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  6. chrisdos

    chrisdos Strebt nach Höherem

    Nehmen wir an ein Maler kann Bilder malen, die sich vom Original oder einer Fotografie kaum unterscheiden. Er spricht damit Mio. von Betrachtern an. Demnach also keine elitäre Kunst. Gleichwohl hat er sich eine Fähigkeit angeeignet, die ihn hochprofessionell und somit elitär macht.
     
  7. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Den kenne ich: Gottfried Helnwein.
    [​IMG]
    "elitär" habe ich hier bislang in der Bedeutung "nur für eine Elite begreiflich" verstanden, nicht als "Mitglied einer Minderheit von Spezialisten". Insofern ist vielleicht der Künstler elitär, aber nicht seine Kunst. Auf Helnwein würde das sicher zutreffen.
     
  8. deraltemann

    deraltemann Strebt nach Höherem

    vielleicht macht er dazu einen eigenen Thread auf .... :smilie:
     
  9. cedartec

    cedartec Ist fast schon zuhause hier

    Warum sollte eine besonders entwickelte Fähigkeit oder Fertigkeit die Person elitär machen? Wenn es mehrere gibt, die aus auch so gut können, dann könnte man eine Gruppe draus machen, aber ob man die elitär bezeichnet oder findet, ist für mich kein Begriff der Wertschätzung ausdrückt.
    Ich denke, dass die Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk fließend sind. Und verschieden für Künstlerin und BetrachterIn. Ist es kreativ aus sich heraus oder nach Anleitung, da sind für mich von der Entstehung aus die Übergänge, auf der Konsumenten Seite kann das völlig anders sein.

    Gruß Gerhard
     
  10. ppue

    ppue Mod Experte

    Ja, es gibt sicher alle Kombinationen:

    Vom Spezialisten in der Ausarbeitung des Kunstwerks und einer einfachen Aussage bis zum wenig handwerklich geübten Künstler mit einem Werk, das kaum einer versteht.
     
  11. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

  12. zwar

    zwar Ist fast schon zuhause hier

    richtet sich denn ein kunstwerk nicht immer irgendwie an eine mehr oder weniger große zielgruppe, und schließt andere eher aus?
    die seeschlacht von trafalgar erschließt sich vielleicht doch eher in ihrem emotionalen gehalt patriotischen briten.
    findet man den röhrenden hirsch gut, wenn man nicht auch herman löns liest?
    was sieht jemand auf kandinskys bildern, ohne den kunst - und gesellschaftshistorischen zusammenhang zu kennen. dreiecke und halbkreise vermutlich.

    was ich sagen will: künstlerischer ausdruck benutzt ja zwingend irgendeine codierung um in die welt zu gelangen. so kann man doch folgern, dass - egal wie es auch zugeht - die transportierten inhalte nicht von allen - und schon gar nicht von allen in gleichem sinne - verstanden werden.

    dann müßte aber jede zielgruppe der kunst als elite benannt werden, wofern sie kleiner ist als die menge derer, die das kunstwerk wahrgenommen haben.

    vielleicht aber lohnt auch eine vereinfachung. der größere teil der menschheit hat erstens keinen zugriff auf kunst, zweitens wenig muße um sich damit auseinanderzusetzen.
    es sind wohl doch eher die wohlstands-eliten, die sich mit kunstwerken und künstlern beschäftigen. ich gehöre dazu, als glücksgeburt in zeit und raum, wie es die kleingeldprinzessin so schön formuliert hat.

    gruß
    zwar
     
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  13. chrisdos

    chrisdos Strebt nach Höherem

    Weil erstklassig oder herausragend zu den Bedeutungen von elitär gehört. Davon abgesehen mag ich den Begriff auch nicht. Zum einen ist er, ob man will oder nicht, negativ besetzt. Zum anderen vermag er im Zusammenhang mit Kunst wohl nicht auszudrücken, was gemeint ist. Er bringt keine Klarheit.
     
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  14. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich hatte erklärt, in welchem Zusammenhang ich von elitär sprach. Die eigentliche Frage war, ob ein Kunstwerk sich selbst erklären, also sich von selbst sinnlich oder geistig erschließen sollte oder nicht.

    Es gibt also Kunst, die
    a) selbsterklärend ist und solche, die
    b) eine gewisse Vorbildung voraus setzt.

    Dazwischen sind die Grenzen fließend. Ich halte es für wichtig, der Kunst absolute Freiheit zu lassen. Als Künstler darf ich Kunst machen, die nur von einer kleinen Gruppe von Rezipienten verstanden werden kann. Zur gesellschaftlichen Diskussion darf aber dann auch der Vorwurf dazu gehören, dass des Künstlers Arbeiten elitär sind. Wie schon beschrieben, halte ich ja gerade diese Auseinandersetzung zwischen Publikum und Künstler für das Wichtigste an der ganzen Sache.
     
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  15. cedartec

    cedartec Ist fast schon zuhause hier

    Ich glaube nicht, dass dies eine feststehende Eigenschaft der Kunst ist, weil sie ja eng mit dem Empfänger zu tun hat, mit dessen Wünschen, Wissen, Einstellungen. Meine Vorbildung beeinflusst doch mein Verhalten gegenüber dem Kunstwerk. Wenn es mir klar erscheint, dann mag es auch viele Gründe geben, warum es mir so klar ist. Mit einer Vorbildung habe ich sicherlich eine deutlich geänderte Kunsterfahrung, nehme ich das anders wahr. Ich glaube nicht, dass die Frage
    so zu beantworten ist, denn wenn es von meinem Kenntnisstand abhängt, ob sich das Kunstwerk sinnlich oder geistig erschließt oder nicht, ist es keine Eigenschaft des Kunstwerks mehr.
     
  16. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Naja, Helene Fischer versteht man ja auch nur, wenn zumindest in einer Welt großgeworden ist, in der es Dur, Moll und 4/4 gibt. Keine Ahnung, wie i.A. Helene Fischer bei dern Tuareg oder Aborigines rezipiert wird. Was denkt ein Grottenolm bei 'Atemlos durch die Nacht'? Was ist 'Nacht'?

    Nee, die hier üblichen Formen von Kunst, Kunstgewerbe, Kitsch und Co. richten sich nach dem, was die Leute kennen, der kulturelle Kontext ist da stark vorhanden. Und ja auch nicht verkehrt, denn Kunst will ja (manchmal) Kommunikation sein, und da muss sich der Sender an den Empfänger anpassen, wenn er verstanden werden will. (Es sei denn, er heisst James Dean, der wollte gar nicht verstanden werden.)

    Kontextfreie Kunst, das wird schon schwierieger ... Free Jazz wird von Kleinkindern, die noch nicht 'musikalisch verbildet' sind eher verstanden (Intensität, Puls, wer kommuniziert mit wem) als Erwachsene, die eigentlich ein großes Stück Kulturgeschichte wieder loslassen können müssen bei Bedarf, um offen für neue Klänge zu sein.

    Hört euch einfach mal 1h tibetanische Ritualmusik an, kontextfrei genug.

    Grüße
    Roland
     
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  17. saxhornet

    saxhornet Experte

    Sorry aber das ist etwas sehr verallgemeinert. Ich kann sowohl analytisch denken als auch Spaß haben. Mir fallen eher Fehler auf als einem Laien aber deswegen kann ich trotzdem immer noch auch einfachere Musik geniessen und muss nicht analysieren. Können heisst nicht müssen.
    Lg Saxhornet
     
  18. antonio

    antonio Gehört zum Inventar

    Selbsterklärende Kunst? Kaum, denke ich - selbsterklärend ist im besten Fall ein Ticketautomat.

    In der Kunst gibt es nur Absichten des Künstlers und geistige/kognitive/emotionale Reaktionen beim Betrachter. Diese beiden Ebenen sind ja auch selten genug nur kongruent. Nix mit "selbsterklärend"... (oder nur vermeintlich)

    antonio
     
  19. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Naja, nicht bei der Bahn, da blickt eh keiner durch. Da hat auch schon der Kundenberater am Schalter eine falsche Fahrkarte verkauft. :) (Mir schon zweimal passiert.)

    Oder, noch besser: Ich habe angerufen und wollte eine Tarifauskunft, ob ich besser so oder so löse. Naja, die Tante am Telefon meinte, zum zweiten Tarif kann sie nichts sagen, weil das ein Verkehrverbund ist, und da weiss die Bahn nichts von. Ich: Prima, dann kann man die allerbilligste Karte lösen, denn nach Ihrer Aussage kann das im Zug ja keiner kontrollieren, richtig? Nach kurzem *grummel* auf der anderen Seite des Hörers wurde ich für diese Frage weitervermittelt. Geht doch!

    Frage: Ist es sooooo schwer, die aktuelle Tarifinformation zugänglich zu machen? Wir haben Computer! Die können Daten verarbeiten! Und die NSA weiss auch den Tarif, bestimmt!


    Naja, anderes Thema.


    Selbsterklärend ... manche Kunst kann ja nur auf einer Metaebene existieren, Parodie zum beispiel.
    Oder bewusst mit Regelbruch spielen oder provozieren.

    Kunst laviert für mich irgendwie im Graubereich zwischen Ordnung und Chaos. Dort wohnt die Kreativität. Und durch Beackern es Graubereichs kann für die Ordnung neues Land geschaffen werden, was den Grenzbeeich wiederum etwas verschiebt. Der Bereich, der vor 400 jahren noch Chaos war, kann vielleicht heute schon in der Ordnung wohnen. Wie der Mensch, der schon dreimal aus Köln gezogen ist, aber immer wieder von der Stadt eingeholt wurde.

    Und jetzt: Wie passt das Werk und Wirken von John Cage in diese Betrachtung? Ich gebe weiter ..

    Grüße
    Roland
     
  20. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Erinnert mich an Luhmann:
    Es gibt keine Kommunikation.
    Es gibt nur Systeme, die sich stören.
    Manchmal stört ein System das andere so, dass beide glauben, dass eine Information übertragen wurde.

    Also, mein Geschreibsel ist nur eine Störung. :)

    Grüße
    Roland
     
    Gast_13 gefällt das.
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