Lehrer und Schüler, wie weit geht ihr mit den Etüden?

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von giuseppe, 14.Juni.2025 um 10:58 Uhr.

  1. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Die Frage, die mir eigentlich immer wieder mal kommt, ist mir gerade bei @Onkel D ‘s Thread wieder eingefallen, möchte ihn aber nicht sprengen und im Topic lassen.
    Was heißt für dich, @mato , und auch für die anderen „Etüden spielen“, bzw. wann seid mit einer „fertig“?

    Übt ihr sie, bis ihr sie fehlerfrei vom Notenblatt spielen könnt?

    Oder übt ihr sie, bis ihr sie so verinnerlicht habt, dass ihr sie auswendig, mit allen Artikluationen und Inflections, mit groovendem Phrasing und bei höherem Tempo komplett aus dem Ohr spielen könnt?

    Übertragen gesehen könnte man auch fragen, lest ihr das Theaterstück fehlerfrei und mit der passenden Emotion vor, wie für ein Hörspiel, oder lernt ihr die gesamte Rolle komplett auswendig, um sie auf der Bühne darzubieten?

    Ich versuche normalerweise den zweiten Weg zu gehen, denn den ersten bin ich bei klassischen Etüden früher lange gegangen, ohne viel für die Improvisation mitzunehmen, wo ich jetzt mein Ziel habe. Mein Kopf sagt mir, dass ich die Sachen viel mehr verinnerlichen muss, um sie in meine musikalische Sprache zu bekommen. Allerdings fühlt sich der zweite Weg sehr sehr langsam an, und mein Niveau ist hier niedriger (heißt, Etüden, die mir für den klassischen Unterricht zu leicht wären, weil ich sie vom Blatt spielen kann, bieten hier noch Herausforderung für viele Übesessions - ich stoße an andere Grenzen, bevor ich an technische stoße). Ich frage mich manchmal, wie gut die Zeit investiert ist. Bis ich ein Stück mit dem zweiten Weg nur aus dem Ohr richtig drauf hab (kann auch ne Transkription sein), kann ich auf dem ersten Weg viele Etüden üben und schon 10x weiter blättern. Und die Etüdensammlungen in meinem Schrank werde ich auf diesem Wege in diesem Leben nicht mehr verinnerlichen.

    Wo setzt ihr da für euch das Ziel, bzw. wie weit lasst ihr eure Schüler gehen, falls ihr unterrichtet? Wann dürfen sie weiterblättern? Auswendig oder nicht?
     
    Rick und altoSaxo gefällt das.
  2. altoSaxo

    altoSaxo Strebt nach Höherem

    Was sind inflections?


    Ich denke es kommt bei Etüden auf das Ziel an.

    Für Technik, Sound und Phrasierung dürfte es ausreichend sein, Etüden nach Noten überzeugend spielen zu können und so habe ich es im Unterricht gemacht.

    Für die Impro sollte ich mir aus Etüden wie auch aus Transkriptionen gezielt einzelne Phrasen rauspicken, die mir gefallen und diese in eigene Impros einbauen. Da war ich leider wenig motiviert, weil es mir unheimlich schwer fällt, Licks organisch einzubauen und weil es mir auch bislang nicht gefällt, bewusst Licks einzubauen, anstatt rein nach innerem Gehör zu spielen, wo die Licks nicht automatisch aufploppen.
     
    giuseppe und Rick gefällt das.
  3. Woliko

    Woliko Strebt nach Höherem

    Die Fragestellung habe ich gestern noch bezüglich der Little Mantras von Enzel mit meiner Lehrerin diskutiert und wir waren uns einig, dass die Technik eigentlich funktionieren und es primär um Sound, Ausdruck, Gefühl ... gehen soll.
     
    altoSaxo, giuseppe und Rick gefällt das.
  4. mato

    mato Strebt nach Höherem

    Ich spiele zuerst Phrase für Phrase langsam mit Metronom durch, dann setze ich alles zusammen und spiele, eventuell mit reduziertem Tempo, mit Playalong und eingespielten Saxophon. Wenn dann alles sitzt nehme ich das Playalong ohne Saxophon und merke, dass es doch noch nicht sitzt und übe dann solange, bis ich zufrieden bin oder meine Grenze erreicht habe. In meiner Unterrichtszeit konnte der Prozess schon mal über vier Wochen oder länger gehen bei täglicher Beschäftigung damit.
    In meine Improvisation sind wahrscheinlich aus den Etüden keine Inhalte direkt eingeflossen, aber die „Sprache“ hab ich irgendwie schon dadurch gelernt.
    Mir haben diese ganzen Etüden sehr dabei geholfen das zu lernen, was ich jetzt kann und ich hatte immer sehr viel Spaß dabei, denn meistens klingen die Stücke schon ziemlich gut und authentisch.
    Inzwischen ist es eher selten, dass ich mich mit sowas beschäftige, was eigentlich sehr schade ist. Ich schreibe jetzt eher mal einen Chorus raus und spiele den nach.
     
    giuseppe gefällt das.
  5. Analysis Paralysis

    Analysis Paralysis Ist fast schon zuhause hier

    Ich hab am Anfang bei Greg die Etüden auswendig gelernt und dann in allen Tonarten gespielt.
    Wahrscheinlich wollte er eine Weile lang Ruhe vor mir haben :)

    Bendings, Falls, Vibrato etc. - oft einem bestimmten Stil zuordenbar.
     
    Zuletzt bearbeitet: 14.Juni.2025 um 13:29 Uhr
    Spätberufener, Juju, altoSaxo und 2 anderen gefällt das.
  6. Gladiss

    Gladiss Schaut nur mal vorbei

    Ich spiele so gut wie keine Jazz Etüden. Statt dessen arbeite ich an Transkriptionen mich faszinierender Soli und versuche die rausgehörten Stücke so exakt wie nur irgend möglich zur Platte mitspielen zu können.
    Der Trainingseffekt für Gehör, Fingertechnik, Sound, Repertoir, Jazzvokabular etc. ist immens.
     
    Juju, altoSaxo und giuseppe gefällt das.
  7. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Genau, deshalb interessiert mich eures!

    :) Das bestärkt mich in meinem Vorgehen, und eine Tonart reicht mir für so Etüden!
    Es ist vielleicht auch ein Problem, dass sich mit der Übung auflöst - aber noch werde ich nicht spürbar schneller, beim „kompletten erarbeiten“.

    Hast du dann am Ende Noten da liegen? Brauchst du sie?

    Im Prinzip meine ich das mit der zweiten Methode. Eine Etüde so intensiv behandeln wie eine Transkription, die man auch nachts nach ein paar Getränken auf der Bühne spielen kann, als wäre es das eigene Solo. :)
     
    altoSaxo und Rick gefällt das.
  8. Alex_Usarov

    Alex_Usarov Ist fast schon zuhause hier

    Servus,

    Ich lerne erst das Stück auswendig, um es innerlich und laut mitsingen zu können. Und ich lerne das Stück beim Einspielen Takt für Takt auswendig. Ich spiele ab einer Phrase jede Phrase zu Playalong zu Verbesserung der Intonation und weil, wenn das Stück sitzt, empfinde ich Playalong nicht mehr als zusätzlichen Störfaktor. Und ich spiele Takte durcheinander, um im Falle des Rausfallens besser reinkommen zu können.
    Wenn ich es auswendig kann, singe ich immer innerlich mit: verbessert Intonation, Konzentration, Fingerarbeit, Übermittlung der Gefühle, befreit und ist einfach geil:)
    Zu Improvisation: zu jedem Playalong tue ich die Tonleiter nicht nur rhythmisch sondern auch melodisch ausarbeiten. Das heißt: ich komponiere zu jedem Playalong eine halbe Dutzend Melodien und irgendwann geht Improvisieren zu jedem Stück von allein.

    Spielen nach Noten und zu Metronom sind meine Schwachstellen, und da lasse ich mich momentan ein wenig gehen(. Aber irgendwann hole ich es mir.

    Liebe Grüße, Alex.
     
    giuseppe und Livia gefällt das.
  9. mato

    mato Strebt nach Höherem

    Ja, ich habe selten mal eine Etüde richtig auswendig gelernt. Das ist dann nach zig Wiederholungen so ein Zwischending von Blattlesen und Auswendigspielen.
     
    Rick und giuseppe gefällt das.
  10. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Da wären aber auch noch Unterschiede bei der Methodik: Ich transkribiere Solos nie im engeren Sinne, sondern ich lerne das Solo direkt vom Hören. Dadurch entfällt komplett das Spielen vom Blatt. Dabei loope ich Section für Sektion in kleinen Stücken in Transcribe, oft bei 20% der Originalgeschwindigkeit. Sobald ich einen Abschnitt probemlos mitspielen kann, hänge ich den nächsten dran. So lerne ich dann Phrasen, ganze Chorusse oder ganze Solos, je nachdem was mich bei den Solo interessiert. Ziel ist nicht unbedingt die Originalgeschwindigkeit. Ich koppele mich dann auch von Transcribe ab und versuche im letzten Schritt das Solo a capella oder mit einem Playalong zu spielen.
    Sachen, die ich nicht selbst rausgehört habe, bleiben meistens nicht hängen. Eine Transkription, die in Notenform vor mir liegt, interessiert mich nicht besonders. Vielleicht eher als Leseübung...

    LG Juju
     
    cwegy, The Z, Silver und 4 anderen gefällt das.
  11. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ich habe als Jugendlicher Gitarren-Riffs und -soli auch nur direkt vom Ohr aufs Instrument transkribiert.
    Jetzt fehlt mir eh die Zeit zum üben, da nehme ich dann gerne notierte Transkriptionen. Es bleibt genug Arbeit, die Artikulation zu erfassen und noch mehr Arbeit, dann von den Noten wegzukommen. Es ist für mich trotzdem viel schneller als direkt raushören, vermutlich, weil mein Unterricht früher sehr notenaffin war und ich wohl besser lese als höre, gerade wenn es komplexer wird. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass ein sehr gutes Ohr schneller ohne die Noten ist.

    Gerade deswegen versuche ich alles, was ich mit dem großen Ziel der Improvisation vor Augen übe, letztlich „meins“ zu machen und von den Noten zu lösen. Ist aber zäh.
     
    Rick gefällt das.
  12. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Der lange Text, den ich gerade wieder gelöscht habe, hatte wenig mit Etüden aber sehr viel mit meinen elementaren Defiziten zu tun.

    Echt guter Thread! Danke!
     
    giuseppe gefällt das.
  13. Analysis Paralysis

    Analysis Paralysis Ist fast schon zuhause hier

    Ich möchte noch hinzufügen, dass es gerade im Bereich Jazz auch wichtig ist, sich vom Wissen zu lösen und sich auf das Intuitive - das Hören - zu verlassen.
    Das ist für mich enorm schwer, und auch ein Prozess von dem ich nicht sicher bin, ob ich ihn iin diesem Leben noch weiterführen/beenden kann.

    Das Gefühl ist wie wenn Du mit dem Rad fährst, weißt, dass Du im Endeffekt ohne Stützräder viel schneller bist. Im Moment aber kannst Du nur 10 Meter ohne fahren bis Du umfällst.
    Mit Stützrädern geht es langsam, aber ohne Probleme.
    Im merke tatsächlich körperlich, wenn meine Hirnhälften zwischen Wissen und Hören umschalten.

    Insoferne kann ich verstehen, wenn jemand erst gar nicht mit Noten oder Theorie beginnt, bzw. sich von Fremdtranskriptionen fernhält.

    In einer perfekten Welt sollte die Benamsung IMHO nach der Hörerfahrung, der Empfindung, erfolgen.
     
    bthebob, Nemo, khayman und 3 anderen gefällt das.
  14. Nemo

    Nemo Ist fast schon zuhause hier

    Hallo @Juju !

    Wie lange brauchst Du dabei für gewöhnlich, bis Du so ein Solo dann spielen kannst?
    Ist schon klar, dass das unterschiedlich und vom Stück abhängig ist, aber was würdest Du so als Durchschnitt angeben?

    Gruß
    nemo
     
  15. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Das ist interessant. Ich spüre einen Schritt vorher deutlich. Wenn ich eine per Noten geübte Etüde von dem Noten wegtrainiere, wird das „Wissen“ erst mal angeschaltet. Ich denke dann z.B.: „Ah ja, jetzt kommt die Phrase, die auf der 6 der Grundtonart beginnt und nach oben geht.“ Manchmal denke ich auch, „die nächste Phrase beginnt auf D“, was vermutlich etwas weniger mit Wissen sondern mit Fingern zu tun hat.
    So kann ich es dann irgendwann auswendig „mit“ Wissen und aktivem Denken. Und dann, nochmal später, kommt irgendwann der Punkt, wo ich nur noch die Melodien aus der Erinnerung und aus dem Ohr spiele, diesen Übergang bemerke ich im Hirn aber eigentlich nicht wirklich, das ist irgendwann einfach so, dass ich immer weniger denke.

    Aber mit Noten denke ich entschieden am wenigsten, würde ich sagen. Das ist halt so verankert. Deswegen halt ich es eigentlich auch für sinnvoll, das auf dem Weg zum reinen Gehörspiel zu nutzen. Vielleicht muss ich aber nochmal nur nach Gehör transkribieren und vergleichen, was für mich schneller oder effektiver ist.
     
    Rick gefällt das.
  16. Gladiss

    Gladiss Schaut nur mal vorbei

    Joe Henderson hat zu dieser Frage einen klaren Standpunkt formuliert:



    bzw. Originalaufnahme der Masterclass at North State University Texas (1985) hier:

     
    ppue und altoSaxo gefällt das.
  17. bthebob

    bthebob Strebt nach Höherem

    @giuseppe
    Echt .... so theoretisch denkst du beim Spielen ?

    Ist mir nicht möglich, sogar unvorstellbar.

    Ich denke in solch' Momenten in Bildern.
    Wörtlich gemeint.

    Ich hole mir die Klaviertastatur vor's geistige Auge
    und "suche" dort, in Kombi mit dem Sax, wie's weiter geht.

    VG
     
  18. bthebob

    bthebob Strebt nach Höherem

    @Analysis Paralysis
    Ja, das kann ich nachempfinden.

    Ich kann mich in keiner Weise mit dir vergleichen, aber mir scheint,
    im Kern haben wir es mit einem psychologischen Phänomen zu tun.

    Als improvisierender Solist vor Publikum, allein, keine Noten als "Krücke",
    jeder erwartet im nächsten Augenblick musikalisch was Herausragendes ....

    das stresst.
    Das ist nicht jedermanns Sache.

    Da müssen bestimmte Dinge in Einem, jenseits von Musik,
    vorhanden sein und passen.

    Selbst wenn ich's könnte, meins wär's auch nicht.;)

    VG
     
  19. Alex_Usarov

    Alex_Usarov Ist fast schon zuhause hier

    Hallo Giuseppe,
    Ich weiß, dass unser Niveau nicht zu vergleichen ist, und eigentlich sollte ich der letzte sein, der Dir irgendetwas empfiehlt. Aber ich meine es lieb).
    Folgende Übung ist zur Entwicklung (an @ppue s Beitrag vom anderen Thread über die eigene Sprache, die eigene Gefühle vermittelt, angelehnt) der Relation "Intervalle - Gefühle ".
    In dieser Übung spiele ich eine einfache melodische Phrase zum Playalong von einer Etüde in A mol, von Tonika ausgehend und ändere jedesmal Intervalle.
    Während des Abhörens von der Aufnahme versuche ich beim Herzen zu sein und gefühlsmäßig zu lauschen, was ich bei jede Phrase empfinde. So lerne ich mein musikalisches Wesen kennen.

    Man kann so aus einer einzigen Phrase ein Stück entstehen lassen, und wenn dieses Stück trotz seiner Einfachheit in Dir etwas weckt und Dein Harmonie-Kompas nicht zu arg aus der Balance bringt, ist in Dir etwas entstanden.

    Ich hoffe, es war nicht zu mystisch:).

    Liebe Grüße, Alex.

    https://youtube.com/shorts/HWnSvPxhejQ?si=MsWWVEB_7yR9SVHy
     
    Rick gefällt das.
  1. Diese Seite verwendet Cookies, um Inhalte zu personalisieren, diese deiner Erfahrung anzupassen und dich nach der Registrierung angemeldet zu halten.
    Wenn du dich weiterhin auf dieser Seite aufhältst, akzeptierst du unseren Einsatz von Cookies.
    Information ausblenden