Was ist eigentlich "Jazz"?

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von Gelöschtes Mitglied 5328, 17.Februar.2013.

  1. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Moin!

    "...
    je mehr Strenge und "Diktatur" eines Leiters oder Dirigenten, desto mehr Unterhaltungsmusik.
    ..."

    "Wir spielen Unterhaltungsmusik, denn wir haben einen strengen Dirigenten."
    "Was spielt ihr denn?"
    "Auferstehungssinfonie von Mahler."

    SCNR

    Roland
     
  2. ppue

    ppue Mod Experte

    1.) Eine Improvisation braucht in der Regel Vorbereitung, sei es, dass man bestimmte Skalen, Patterns, Licks oder nur Tonverbindungen geübt hat oder sei es, dass man schon eine Menge Melodien gespielt hat. Auch Letzteres übt einen. Man muss keine Etüden gemacht haben, um improvisieren zu können. Ist aber in aller Regel sinnvoll (-:

    2.) in den großen Swingorchestern der 30er Jahre haben die Solisten ganz oft jeden Abend das selbe 'Solo' gespielt. Das würde ich ab der ersten Wiederholung nicht mehr Improvisation nennen.

    3.) Das Nichtfesthalten einer Tonfolge macht solche noch nicht zur Improvisation. Auch das Einüben eines Solos macht es meines Erachtens nicht zur Improvisation. Das ist eine Komposition. Es bleibt allerdings ein Solo.

    4.) Nein, denn es ist eine besondere Form der Improvisation. Improvisieren kann man genau so gut über ein Thema, in dem man sich darauf bezieht, es zitiert und verändert. Das ist nicht weniger Improvisation als eine völlig von Themen und Harmonien befreite Improvisation.
     
  3. lee

    lee Ist fast schon zuhause hier

    bezieht sich auf rolands beitrag.

    wagner, meistersinger:
    WALTHER:
    Wie fang' ich nach der Regel an?
    SACHS:
    Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.
     
  4. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Ja, aber da gab's ja noch den Antipoden Beckmesser.

    Er und seine Jünger meinten ja, das steht alles in dem großen Buch.

    Grüße
    Roland
     
  5. Rick

    Rick Experte

    Hallo Ppue,

    grundsätzlich einverstanden, aber bei diesem Punkt habe ich etwas Bauchweh:

    Ich besitze viele Aufnahmen aus der Zeit und wüsste da jetzt kein wirkliches Beispiel für VÖLLIG unveränderte Solos.
    Klar gab es gewisse "signature licks", Erkennungsmelodien, wie etwa Count Basies Klavier-Intro zu "One O Clock Jump", aber selbst bei Glenn Miller wurde improvisiert, sogar "In The Mood" wurde keine zweimal gleich gespielt, soweit ich weiß.

    Von Louis Armstrong existiert hingegen meines Wissens die Aussage, dass er durchaus ein bestimmtes Solo (bzw. dessen Erkennungsmerkmale) wiederholte, wenn es gut beim Publikum ankam.

    Trotzdem wurde so ein "festes Solo" immer wieder variiert, ausgeschmückt - also doch Improvisation nach Punkt 4! ;-)


    Kollegiale Grüße,
    Rick
     
  6. ppue

    ppue Mod Experte

    So viele verschiedenen zeitnahen Aufnahmen des gleichen Stückes gibt es wohl nicht aus der Zeit. Da kann es gut sein, das die Soli oder selbst die Solisten schon andere waren.

    Nun muss man sich vorstellen, dass die Jungs jeden Abend spielten. Dann muss man sehen, dass es Showauftritte waren und nicht zuletzt die Artistik am Instrument vorgeführt wurde. Also spielte man effektreich. Das war eher angesagt als der individuelle künstlerische Anspruch, immer Neues zu generieren.

    In besseren Zeiten hatte ich 150 Auftritte im Jahr und schon da rutscht man in eine Routine oder besser gesagt, in einen Prozess hinein, wo die Improvisationen sich Abend für Abend immer mehr angleichen, sich quasi von selbst verfestigen. Die sind von der musikalischen Qualität außerordentlich gut, das Material und der Spannungsbogen ausgereizt, auf ganz eigene Art gewachsen. Eine erimprovisierte Komposition.

    Es ist ein regelrechter Gewaltakt, sich einen Schupps zu geben und sie völlig neu anzulegen. Man muss sich dann selber durchbrechen, verblüffen, sucht sich einen Anfangston, der so gar nicht passt und macht sich auf, neue Wege zu finden.

    In den Swingorchestern hatten die Orchesterleiter mehr als ein Wörtchen mitzureden, wenn es darum ging, was man spielte. Auch durch sie wurden die Musiker angehalten, auf bestimmte Art oder eben ein bestimmtes Solo zu spielen.

    Sicher nicht die demokratischste Phase des Jazz (-;



     
  7. gefiko

    gefiko Strebt nach Höherem

    Schöne Diskussion !

    übrigens: den Begriff "Dixieland" empfinden die
    Afroamerikaner als "weiss". Korrekt wäre "traditonal"
     
  8. Gast_13

    Gast_13 Guest

    Wäre spannend gewesen, mal einen der damaligen Protagonisten zum Thema zu hören.

    Könnte ja sein, dass die den Job im Swingorchester als Tanz- und Unterhaltungsmusik und die Session danach in der Kneipe als Jazz bezeichnet hätten.

    Wir schauen ja nur im gewissen Abstand auf das Ganze.

    @ gefiko:

    1920 hat sicher keiner gesagt, seine Musik wäre "Traditional Jazz". Die Stilbezeichnungen - die aber auch erst später eingeführt wurden - sind New Orleans Jazz, Chicago Jazz - oder Hot Jazz in Abgrenzung zum Swing. Oder Rhythmisch gesehen Two Beat in Abgrenzung zum späteren Four Beat.

    "Dixieland" ist eine weisse romantische Verklärung der Südstaaten, mit Negersklaven, Südstaatenflagge und allem was sonst dazu gehört. Für einen schwarzen Amerikaner der inbegriff des Rassismus und Faschismus
     
  9. flar

    flar Guest

    Moin, moin Nummer_13
    Ganz spontan habe ich gedacht es ist so wie Du schreibst! Habe ich so auch schon mal gehört, gelesen, na ja kam mir bekannt vor.Aber da gibt es auch Leute die unsere Meinung nicht teilen, und zwar diese Besserwisser hier! Nun müßen die nicht immer Recht haben, logisch klingen tut es aber auch. Was sagen unsere Fachleute aus der Dixieabteilung? Die Begriffsherleitung war mir etwas anders geläufig als die hier erklärte Geldscheinvariante.

    Viele Grüße Flar
     
  10. ppue

    ppue Mod Experte

    Das kann sich ja durchaus vermischen, wie sich später auch New Orleans Jazz und Dixieland Jazz vermischt haben. Dixieland Jazz ist der von den Weißen nachgespielte New Orleans Jazz. Er ist etwas glatter im Stil als der New Orleans Jazz.

    http://www.youtube.com/watch?v=Wh9ZlmbxQ2s
    http://www.youtube.com/watch?v=jCdWvCblaW8
     
  11. Gast_13

    Gast_13 Guest

    Immerhin hat ja Nick LaRocca seine Band "Original Dixieland Jazz Band'" genannt, mit der er 1917 den "Tiger Rag" in New York aufgenommen hat.

    Aber den Begriff Dixieland Band kenne ich eigentlich nur von europäischen oder deutschen Bands, die den Jazz der 20iger Jahre nachgespielt haben.

    Da wir nicht dabei waren, werden wir es nie 100% Wissen.
    ;-)
     
  12. gefiko

    gefiko Strebt nach Höherem

    1920 sicher nicht, heutzutage doch.
    Ein Freund von mir, der in New Orleans lange Zeit mit schwarzen Musikern zusammen arbeitete, erzählte mir das. Beim ersten Mal als er gemeint hat: "lass uns ein Dixie-Stück spielen" hat er böse Blicke bekommen und die Antwort: " es heisst Traditional"
    Genau wie Du es beschreibst, empfinden die Menschen den Begriff "Dixieland" als eine Art Beleidigung.
     
  13. saxology

    saxology Ist fast schon zuhause hier

    Die Frage ist, ob wir uns in Deutschland deswegen vom Begriff Dixieland verabschieden sollen.
    Bei uns hat das Wort doch eher den Beigeschmack von Biergartenmusik mit einem Hauch von Spießertum.

    Gruß
    Joachim
     
  14. gefiko

    gefiko Strebt nach Höherem

    Ich weiss nicht, was politisch korrekt wäre...



    eigentlich schade, ist ja tolle Musik

     
  15. ppue

    ppue Mod Experte

    Bemerkenswert an den Stilen: New Orleans und Dixieland Jazz sind bis zu den Anfängen des Free Jazz die Einzigen, in denen kollektiv improvisiert wurde.
     
  16. flar

    flar Guest

    und war mal revolutionär und etwas später als entartet verboten! Schwieriges Thema! Mit politisch Korrektheit, von der ich persönlich so wieso nicht viel halte, könnte man vielleicht noch nachträglich Leuten recht geben die das nun wirklich nicht verdient haben!!

    Viele Grüße Flar
     
  17. rbur

    rbur Gehört zum Inventar

    Dixieland wird von Weißen gespielt, New Orleans von Schwarzen. Insofern hört ein Farbiger es natürlich nicht gern, wenn er zum Dixieland spielen aufgefordert wird. Hat aber nix mit politisch korrekt zu tun.
     
  18. Gast_13

    Gast_13 Guest

    Nun war aber die Apartheitspolitik in den USA bis 1945, nach der es bei Strafe(insbesondere für Schwarze) verboten war, zusammen zu musizieren, nicht die Idee der weissen oder schwarzen Musiker.
    In so fern war die Unterscheidung damals sicher politisch korrekt - ob sie das heute noch ist, wage ich zu bezweifeln.
    Für mich ist sie - bezogen auf amerikanische Musik der 20iger Jahre - nicht relevant.
     
  19. ppue

    ppue Mod Experte

    Das englische Wikipedia liefert genauere Informationen über Dixie (Song) und Dixieland Jazz. Wen's interessiert:

    http://en.wikipedia.org/wiki/Dixie_%28song%29
    http://en.wikipedia.org/wiki/Dixieland
     
  20. Gast

    Gast Guest

    Die Unerschiede zwischen New Orleans Jazz, Hot Jazz, Dixieland, Chicago sind m.E. für uns hier und heute (Musiker wie Live-Konsumenten) völlig irrelevant, solange wir nicht historische Ensembles nachspielen. Musikwissenschaftler und Plattensammler mag das interessieren, aber wer im Ensemble Dixieland spielt, holt sich von überall die passenden Stilmittel, improvisiert wie er es draufhat oder mag - und seien es Bebobleitern und alterierte Akkorde. Entscheidend sind die Besetzung und die alles bestimmende Kollektivimprovisation.

    Dixieland ist in Europa die gängige Bezeichnung für die für Oldtimer übliche Revivalstilmischung, egal, ob ich eher auf Bix Beiderbecke oder Hot Five oder Firehouse Five oder Chris Barber stehe. Die Okkupation des Ausdrucks Dixieland von Red Necks und Südstaatenrassisten dürfte relativ neu sein und sollte m.E. nicht hier im fernen Europa sofort zu Vermeidungsreaktionen führen.

    Herman
     
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