Welche Zukunft hat Jazz?

Dieses Thema im Forum "Eigene (musikrelevante) Themen" wurde erstellt von Gelöschtes Mitglied 5328, 15.Mai.2011.

  1. Rick

    Rick Experte

    Hallo Kai!

    Für mich gibt es aber auch Unterhaltungsmusik mit künstlerischem Anspruch (im Jazz z. B. Swing oder Bossa Nova) genau wie künstlerische Musik mit unterhaltsamen Aspekten (z. B. Bebop oder manche Fusion).

    Muss man denn immer alles nach Schablonen ausrichten und in Schubladen einteilen?

    Warum nicht einfach den hier schon gegebenen Vorschlag aufgreifen: Gute und schlechte Musik. :-D

    Solche Leute gibt es, klar. Aber nach meiner Erfahrung ist die Bereitschaft größer, als man manchmal meinen möchte, sich auch mal etwas Ungewöhnliches anzuhören.
    Selbst die "breite Masse" mag nicht immer nur das Gleiche hören, will nicht gelangweilt werden.

    Zum letzteren stimme ich Dir zu - aber was ist denn so schlimm daran, wenn die Musiker mit einem bekannten Thema (z. B. "Take Five") anfangen und daraus die spontane Kommunikation ableiten?

    Es KANN durchaus Schmerzen bereiten, gerade im Bereich Free und Avantgarde.
    Da ist das Publikum oft besonders leidensfähig. ;-)

    Weil es viele leider nun mal tun - das kann ich beurteilen, weil ich genau zuhöre und manchmal selbst dazu neige (es aber nach Möglichkeit zu vermeiden versuche). :roll:

    Muss man denn Musik immer "verstehen"?
    Kann man sie nicht einfach auch mal genießen, selbst wenn man nicht genau weiß, welche Akkordprogressionen, Skalen und chromatischen Tensions hier warum verwendet werden? :-o

    Wenn Musik nicht auch aus sich heraus verständlich ist, beraubt sie sich einer wichtigen Dimension.
    Ich habe in meinem Leben schon die abgefahrensten musikalischen Experimente gemacht (mit krummen Metren, schrägen Akkorden und verrückten Skalen, von merkwürdigen Klängen etc. ganz zu schweigen) und dabei festgestellt, dass es zwar schön ist, wenn Musik vielschichtig und komplex ist, doch damit ein Zuhörer (auch ein Fachmann!) einen Zugang dazu finden kann, benötigt man immer eine emotionale Komponente, wenigstens IRGENDEINEN Wiedererkennungswert.

    Sonst ist man schnell im Elfenbeinturm bei den 15 bärtigen Rollkragenpullis - und glaube mir, DEN Ort kenne ich zu Genüge! :lol:

    Neid gibt's meistens eher umgekehrt - von der "Jazzpolizei" auf die Unterhaltungsmucker":
    "Ph, das könnte ich auch, aber will ich gar nicht..."

    In Wirklichkeit ist es wesentlich einfacher, irgendetwas "Freies" dem Publikum vor die Füße zu knallen, als beispielsweise einen anspruchsvollen Standard ansprechend zu interpretieren.

    Und wer über "Take Five" lästert, kann ja mal versuchen, ein abwechslungsreiches Solo im 5/4-Takt über lediglich eine Scale zu spielen... :cool:

    Klar, das macht Laune - könnte aber wieder als "unterhaltsam" degradiert werden, weil dann die "Kunst" auf der Strecke bleibt. :p


    Schöne Grüße,
    Rick
     
  2. Gast

    Gast Guest

    wow Rick

    hut ab....

    :)
     
  3. Brille

    Brille Strebt nach Höherem

    Mensch Leute,

    mit diktatorischer Totalverkopfung und Spaßbremserei durch Intellektuellenschlaumeierei macht man alles schnellstmöglich kaputt.

    Ich denke, der einzige Weg ist der, dass sich der Comsumer langsam durch die Musikangebote hindurchhört und bei Interesse auch weiter einsteigt und das "Sichberieselnlassen" hinter sich lassen kann.

    Wenn tatsächlich Interesse vorhanden ist, wird man sich langsam in komplexere sachen "einhören" können. Wenn nicht, dann nicht.

    Wenn aber dann die amtliche Jazzsittenpolizei ruft: "das ist kein Jazz!", dann soll die mir gestohlen bleiben mit ihrer Dogmatik.

    Häufig entsteht das Kaputtreden aus Neidsituationen heraus, wenn sich irgendwo kommerzieller Erfolg einstellt, und man das dann gering reden möchte.

    Es ist doch z.B. prima, dass T.Brönner kommerziellen Erfolg hat mit angejazzten Sachen. Das erweitert das Spektrum im Kommerzbereich und ermöglicht so vielleicht dem einen oder anderen den Einstieg in den Jazzbereich. Er ist ein absoluter Könner am Gerät. Dass ich die letzten Platten S.... finde, bleibt mir aber dennoch unbenommen.
     
  4. reiko

    reiko Strebt nach Höherem

    Hallo Leute,
    es ist wohl ein Stigma der abendländischen Kultur, das Dinge die Spaß machen zuerst mal verdächtig und dem Gemeinen, Unedlen zuzuschreiben sind. Dazu gehört Musik und Bildende Kunst, die ausserhalb elitärer Kreise verstanden wird, Sex, gutes Essen ... Ich habe nichts gegen elitäre Kreise, ich gehöre selbst zu einem, nur in einem anderen Fach, und das ist gut so. :)
    Aber man darf nicht sich den Blick verstellen für die einfachen Dinge oder eine Haltung von oben herab einnehmen. Einfachheit hat oft eine bestechende Ästethik, auch in der Musik. Opernarien des 19. Jahrhunderts waren nicht selten auch Gassenhauer, oder sind als solche "missbraucht" worden. In Fußballstadien hört man ja auch heute noch immer wieder Aida aus heiseren Fankehlen. (die wissen es wahrscheinlich nicht, können es aber gröhlen, den Triumphmarsch tö töh tatata ta ta ta ....)
    Wir sollten, wo unserer Welt schon so komplex ist, doch wenigstens in unserer Freizeit wegkommen vom Verkopften, vom höher schneller weiter. Einige Künstler versuchen wieder zurück zu schönen einfachen Klängen statt viele Noten pro Takt zu kommen. Z.B. Arvo Pärt. Finde ich eine tolle Entwicklung. Und wenn wir wollen, dass viele Menschen wieder aktiv musizieren, statt sich berieseln zu lassen, dann muss die Musik zu den Ursprüngen zurück, und zur Freude nicht zu Schmerzen.
    Übrigens: wenn ich ein Duell sehen will, schau ich mir einen Boxkampf an, und geh nicht in einen Jazzclub.
    Viele Grüße Reiner
     
  5. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    Oh Reiner,

    ich finde, dass hast sehr treffend geschrieben.

    Alleine schon die Unterscheidung in Deutschland nach U und E Musik
    (wird ja glücklicherweise weniger).

    Musik soll in erster Linie Spaß machen. Mozart war zu seiner Zeit Popstar und gehört der Arme zu den "ernsten" Komponisten.

    Also kann ich wirklich voll unterschreiben....

    LG

    Dreas
     
  6. Gelöschtes Mitglied 1142

    Gelöschtes Mitglied 1142 Guest

    Welche Zukunft hat Jazz?

    So viel Zukunft, wie es Musiker gibt, die ihn spielen.
    So viel Zukunft, wie es Menschen gibt, die ihn hören.

    Gruß aus dem Schwarzwald
    Bernd (der die eingängigen alten Standards, Swing und Dixie mag und mit Free Jazz und verkopfter Musik nix am Hut hat)

     
  7. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich denke, es gibt alle Sorten von Musikern. Solche, die puristisch ihren eigenen verquerten Stil pflegen und solche, die sich darin wiederfinden, Musik für ein breites Publikum zu machen. Und es gibt natürlich alle Nuancen dazwischen.

    Es gibt den Freejazzer, der aus der Not heraus, nicht komplexe Changes spielen zu können, in dem Genre eine Nische gefunden hat, in der er anerkannt wird und es gibt den Tanzmusiker, der nicht die Traute hat, seinen eigenen Stil zu pflegen. Es gibt hervorragende Solisten, die aus finanziellen Gründen Tanzmucke machen oder sich 'nur' durch Unterricht verdingen können und es gibt weniger starke Solisten, die aufgrund ihrer Bühnenperformance bekannt geworden sind.

    Das ist die breite Pallette der Profimusiker. Nur führt das in der Diskussion kaum weiter.

    Das Überleben des Jazz war von den 20gern bis in die 60er Jahre davon geprägt, dass rund alle 10 Jahre eine stilbildende Neuerung eintrat, die immer auch von Einzelmusikern geprägt war. Seit den 60ern sehe ich die nicht mehr 'sortenrein'. Danach sehe ich eine Phase von Fusionierungen. Fusion, Electric Jazz, auch Funk oder Ethnojazz erwuchsen nicht mehr alleine aus den Wurzeln der Jazzgeschichte. Ein neuer Jazzstil wie es der Cool Jazz mal war, ist nicht in Sicht und man kann wohl davon ausgehen, dass es diese sprunghaften Veränderungen nicht mehr geben wird.

    Bezeichnender Weise lassen sich die puren Jazzstile nicht nur einzelnen Musikern zurechnen, sondern auch bestimmten Orten: New Orleans, Chicago, New York, New York und Westcoast brachten die fünf Stile New Orleans, Chicago, Swing (Bigbandaera), Bebop (als Gegenbewegung zum kommerziellen Bigbandgeschäft) und Cool Jazz hervor.

    Desto weiter sich der Jazz geografisch verbreitete, desto weniger charakteristisch ließen sich genaue Stile zuordnen. Heute ist es vorbei damit.

    Sollte der Jazz also noch leben, lebt er zumindest in ganz anderer Form als im letzten Jahrhundert. Er durchzieht fast alle Bereiche der populären Musik, hat aber seine Fähigkeit verloren, stilbildend zu sein. Wenn diese Fähigkeit den Jazz definiert, dann ist er in dieser Form tot. Eine Frage der Benennung.

    Die Bandbreite zwischen individuell und kommerziell besteht darüber hinaus. Vielleicht ist es unglücklich, beide Fragen auf einmal zu diskutieren.

    @Rick: das ist so ein Ding, ich fing ja an, über Take Five zu schreiben, aber es lästerte nicht einer über die geniale Komposition und überhaupt:

    @alle, die sich auf den Schlips getreten fühlen:
    Ihr selbst seid die, die wertet. Schreibe ich 'kommerziell', dann lest ihr unedel, schreibe ich von 'Kunst', dann meint ihr, ich rede von etwas Besserem. Wo steht das denn? Was bremst euren Spass?
     
  8. Gast

    Gast Guest

    @Rick
    Ich bin ein Anhänger des Klassizismus was klassische Jazzstücke angeht.
    Du bist eher ein Neoklassiker oder auch ein Mischer, weshalb ich eben aus meiner Position argumentiere!

    Die Engstirnigkeit beginnt dort, wo man man die andere Position
    nicht akzeptiert, dass ….lieber RICK ist aber nicht der Fall bei mir, ich akzeptiere
    deine Position, … aber ich mag sie nicht, das ist schon alles!

    Manchmal muss man nur verstehen, dass es nicht erforderlich ist, dem GESCHMACK
    eines anderen zu widersprechen.
    Ich bin nun mal so gestrickt, das ich vergangene Werke in ihrer Originalität bevorzuge.

    Die Verwebungen im Jazz sind klar und dennoch eine Geschmackssache!

    Gleichwohl sollte man mal was von den Positionen gehört haben.

    Was Jazz war, ist längst nieder geschrieben und in seiner Urform schon tot, da hat Pue vollkommen Recht!

    Der Klassizismus ist das weitgehende festhalten am Stil, eben traditionell.

    Der Gegenpol ist der Neoklassizismus, eine Tradition auf dem Weg der Erneuerung
    mit Mischung von Jazzstilen.

    Auf dem weiteren Weg vollzieht sich das nicht mehr trennbare und das hin und her Springen
    zwischen No Wave, Free Funk, Klassizismus, Neoklassizismus und Weltmusik.

    Ein Klassizist hat die Position des Bewahrenden, ein totaler Springer mischt alles was nur geht, so wie ein Neoklassiker nur die Jazzstile mischt.

    Das Springen von allen Richtungen macht nicht Halt vor Kommerz, ebenso wenig wie Rock oder Pop, Kommerz ist schon implementiert!

    Ob es dann noch eine Kunstmusik ist, im Sinne von Individualität eines Künstlers sei dahin gestellt, das kann Pue besser beurteilen!

    Jede Position ist darin wieder zu finden, und wenn man bzgl. der klassischen Jazz Stücke
    den Klassizismus vertritt, dann spielt man das Stück so wie es war,
    aber nicht neoklassisch!

    Und von jeder Position, ist die Sichtweise und die Argumentation verschieden, aber das ist normal und wird in der Jazz Welt auch akzeptiert!

    @PeterWespi

    Im Klassizismus geht man von einer Position aus, in dem man ein einfaches Musikstück adelt und ein Meisterwerk daraus macht: Louis Armstrong /W.C. Handy *St. Louis Blues*
    Miles Davis / Cindy Lauper * Time after Time*
    Unter dem Aspekt Kunstmusik!

    LG Hans

     
  9. reiko

    reiko Strebt nach Höherem

    Lieber ppue,
    ich fühle mich nicht auf den Schlips getreten, geht auch fast nicht, denn ich ziehe selten einen an (ausser auf meinem Avatar, da hab ich mich fürs Forum fein gemacht).
    Was ich Dir sehr gut nachfühlen kann, ist, dass man in Forenbeiträgen schnell missverstanden wird. Vor allem wenn man über so vielschichtiges wie "Musik" redet bzw. schreibt.
    Viele Grüße Reiner
     
  10. Gast_13

    Gast_13 Guest

    Für mich ist Jazz die urdemokratischte Form des Musik machens. Es treffen sich gleichbereichtigte Musiker die miteinander kommunizieren.

    Das andere wesentliche Element ist die Improvisation.

    Also ist Jazz die spontane gleichbereichtigte Improvisation.

    Wie das dann letztlich klingt und in welchen Formen und Stilelementen das abläuft ist eigentlich zweitrangig.

    Somit hat Jazz für mich dann eine Zukunft, wenn Demokratie eine Zukunft hat. Wird Demokratie zugunsten von Sicherheit oder Marktwirtschaft geopfert, dann wird auch Jazz keine Zukunft haben.

    Übrigens gibts in Stuttgart einen Unternehmensberater, der für Mitarbeiter in leitender Funktion Jazz Seminare anbietet. Ziel ist es, die spontne Kommunikation und das Improvisatorische Zusammenarbeiten zu fördern. Ein guter Ansatz, wie ich finde.



     
  11. Gast_13

    Gast_13 Guest

    /pic_13_4dd2bf4c837b4.jpg[img align=right width=300]http://www.saxophonforum.de/uploads/profile/pic_13_4dd2bf4c837b4.jpg[/img]

    Ohne Worte!
     
  12. cara

    cara Strebt nach Höherem

    Auf einander hören, miteinander spielen und jedem Partner seinen gleichberechtigten Spielraum lassen

    Ja, ein sehr guter Ansatz. Gefällt mir :-D

    Gruß Cara
     
  13. Gast

    Gast Guest

    hi nummer 13,

    verrätst du uns wer dieses seminar durchführt?

    Nimo
     
  14. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    Hi Nummer 13,

    Marktwirtschaft steht gegen Demokratie??

    Wie verstehst Du das??

    Ein Unternehmensberater bietet Seminare z.T Jazz an.
    Ja passt, da es um Kommunikation geht.

    Aber das ist doch Marktwirtschaft und somit undemokratisch???

    Bitte um Aufklärung....

    Dreas

    P.S. Ne lass mal lieber. Das wird zu politisch, macht keinen Sinn!!!
     
  15. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    @all

    für mich ein Zwischenfazit.

    Ich habe viel durch den Thread gelernt.

    Ich bin kein Musiker. Ich habe erst vor nicht allzu langer Zeit angefangen
    selbst Musik zu machen.

    Ich habe immer viel Musik gehört. Passiv als Berieselung, aktiv
    indem ich über meine HiFi Anlage aktiv zuhöre, viel auch auf Konzerten.

    Pop, Klassik, Jazz, auch Loungemusik. Ich habe immer das gehört was,
    mir gefällt. Habe nie darüber nachgedacht, was sich historisch dahinter verbirgt, oder wie Experten das sehen.

    Immer das was ich gerne höre. Wie bei guten Wein. Ich trinke den, der mir schmeckt und achte nicht so sehr auf Etiketten. (Wobei ich inzwischen weiß welche Ettikettenattribute auch was über die Qualität Aussagen).

    Jetzt habe ich auch einen Einblick über Hintergründe und Zusammenhänge von Jazz bekommen
    (Bei allen kontroversen Diskussionen, die ich auch gut finde. )

    Das hat mir sehr viel gebracht.

    Finde ich gut. Schönes Forum.

    Schönen Abend,

    Dreas
     
  16. Rick

    Rick Experte

    Hallo Peter,

    da stimme ich Dir natürlich zu.

    Das erzählen sie uns zumindest, J. E. Berendt, Ken Burns und wie sie alle heißen...

    Ich hatte und habe ja die Ehre, mit sehr alten Jazzmusikern zusammenzuspielen, mit einem New Yorker Drummer, in den 20ern geboren, habe ich sogar ein paar Monate zusammen gewohnt (war eine interessante Zeit!).
    Der sah das völlig anders.

    Mal vereinfacht zusammengefasst:

    Es gibt eine musikalische Kontinuität vom Blues und Gospel über alle Jazz-Stile bis hin zu Soul und sogar Hip Hop, von der Tradition bis zur Avantgarde.

    Viele Jazzer waren an berühmten Pop-Aufnahmen beteiligt, seltenst hat jemand darin etwas Verwerfliches gesehen.

    Alle Unterschiede, was Stile (besonders deren Reinheit!) und "Lager" (Traditionalisten gegen Modernisten) angeht, sind eine Erfindung des "Weißen Mannes", also der Journalisten und Musikwissenschaftler, die schöne, griffige Thesen brauchen.

    Gerade Berendt mit seiner sehr schematischen Darstellung der Jazz-Geschichte ist bis heute unter den Musikern (besonders den Zeitzeugen) heftig umstritten.

    Vergessen wir nicht, dass die verschiedensten Stile, die wir so gerne unterschiedlichen Epochen zuordnen, gleichzeitig munter koexistieren.

    Als Miles Davis 1959 seine "Kind of Blue" herausbrachte, hat Louis Armstrong keineswegs verbittert die Trompete beiseite gelegt, er hat stattdessen lustig weitergespielt und viele, durchaus auch junge Menschen, in seinen Bann gezogen, die nach einem Miles-Konzert zu Hause noch eine Armstrong-Platte als "Absacker" auflegten (hat mir ein Onkel so erzählt).

    Coleman Hawkins ließ sich von den Beboppern beeinflussen, die ihn vorher nachgeahmt hatten, Duke Ellington komponierte bis zu seinem Tod immer abgefahrenere Sachen, ließ aber bei seinen Auftritten auch immer dazwischen alte Nummern erklingen.

    Stile sind Schubladen. Jazzer sind Menschen.
    Passen Menschen in Schubladen?

    Ist denn jemals etwas allein aus den Wurzeln entstanden?
    Jazz ist per definitionem eine extrem eklektische Musik und hat sich IMMER durch die Aufnahme "fremder" Elemente (gewissermaßen als Dünger) weiter entwickelt.

    Ich sehe das eher so, dass Berendt ab den 70ern keinen Bock mehr auf Jazzgeschichtsschreibung hatte und damit auch seine "messerscharfen Analysen" ausfielen. :-D

    Er hatte seine These von der Jazz-Evolution bis zum Free Jazz schön ausformuliert, viele glaubten sie (ist ja auch nicht VÖLLIG falsch, bloß allzu grob vereinfachend), jetzt war das Buch geaschrieben und damit abgeschlossen, es kam keine ähnliche Autorität mehr nach, die die Deutungshoheit übernahm, also war's das.

    Das heißt aber nicht, dass die Jazzentwicklung tot ist - nur die Geschichtsschreibung hat leider den Löffel (bzw. den Stift) abgegeben. ;-)

    Tatsächlich war wohl Jazz selten so vital und allgemein verbreitet wie heute, wenn man den gesamten Globus betrachtet.
    Es lassen sich auch durchaus Trends und Stile ausmachen, sogar ziemlich deutlich, wenn man mal genau hinschaut und sich informiert, was weltweit alles abgeht.

    Nach wie vor beeinflussen sich Jazz, Rock, Pop und Avantgarde gegenseitig, nehmen immer mehr Ethno-Elemente auf und verschmelzen zu einer gigantischen "Weltmusik".
    Eine spannende Entwicklung! :)

    Ich habe mich aber bei "Take Five" explizit auf HWPs Kritik an der Interpretation von Jazz-Standards bezogen - entschuldige bitte, falls das missverständlich rüberkam!

    Ich fühle mich auch überhaupt nicht auf den Schlips getreten (und möchte das auch selbst bei keinem anderen tun), sondern ich genieße ganz im Gegenteil diese anregende Diskussion, die so viele interessante Facetten zeigt!

    ------------------------------------------------------

    Hallo Hans,

    ich bin keiner bestimmten Richtung zugehörig, sondern finde einfach unheimlich viel sehr interessant.

    Ich liebe alte Aufnahmen, habe dadurch auch sehr viel gelernt, aber ich finde sie nicht immer optimal oder ewig unantastbar.

    Es hat einen Reiz, sich mal mit den "Alten Meistern" zu beschäftigen und zu probieren, sie möglichst authentisch nachzuspielen, aber mich interessiert dann auch, was ich selbst (mit dem Wissen über frühere Musizierpraxis) heute daraus machen würde.

    So gesehen finde ich den Ansatz von Wynton Marsalis und seiner Arbeit mit dem Lincoln Center sehr spannend, habe ihn auch mal mit einem Ensemble bei einem Festival erleben dürfen (war klasse!).

    Die spielen ja nicht Ton für Ton historische Aufnahmen nach, sondern sie wollen vielmehr den Geist der damaligen Musizierpraxis (z. B. Kollektiv-Improvisation) am Leben erhalten.

    Das entspricht dem, was mir sinngemäß viele alte Jazzer gesagt haben:
    "Darf ich jetzt plötzlich meine Musik nicht mehr spielen, nur weil man heute etwas Anderes macht? Darf ich sie nicht mehr mit jungen Leuten zusammen spielen, weil die sonst "ihre Zeit verraten"?
    Darf nicht mehr die Jugend von den Alten lernen?"

    :roll:

    Okay, akzeptiert! :lol:

    Aber man darf sich doch über verschiedene Standpunkte austauschen, oder? ;-)

    Absolut legitim.
    Ich hasse es auch, wenn jemand partout versucht, alte Aufnahmen Ton f+ür Ton nachzuspielen, das ist mir zu billig.

    Was ich zum Beispiel mit meiner Big-Band seit über 10 Jahren mache, ist stattdessen der Versuch, den erwähnten "Spirit" des vergangenen Jazz einzufangen.
    Den Spaß, die Musizierfreude, die gewisse Unbekümmertheit, aber auch die Expressivität, die zwischendurch meiner Ansicht nach etwas verloren ging - also alles, was ich an dieser Musik so liebe, zu bewahren und in die heutige Zeit zu retten.
    Das ist einfach toll, wenn es gelingt! :)


    Liebe Grüße,
    Rick
     
  17. ppue

    ppue Mod Experte

    Behrendt beschreibt die Stile genau so wie Ekkehard Jost, genau so wie die nicht nichtberendthörigen Amerikaner. Die Musik, die ich auf alten Schallplatten höre, spricht eindeutig die selbe Sprache.

    Natürlich waren die Stile früher abgegrenzter und klar definierbar, es war ja jedesmal eine Revolution und trotzdem, da hast du Recht, Rick, wurden alle Stile immer weiter gespielt, also auch parallel. Miles Davis hat etliche davon geprägt, während Armstrong immer noch New-Orleans-Jazz spielte.

    Den plötzlichen Innovationen dieser Stile folgte eine Phase der Vermischung von Rhythm%Blues, Rock'n Roll, Pop, Beat, Ethno, Electric, Latin und und und. Diese Phase haben wir immer noch und sie wird nicht aufhören. Hip Hop hat vielleicht ähnliche ethnische Roots wie der Jazz, ist aber doch kein Jazzstil.

    Der Jazz hat die Fähigkeit, stilbildend zu sein, verloren.

    Im Grunde spielen alle Saxophonisten in diesem Forum verschiedene Stilistiken aus den frühen Phasen des Jazz. Die harmonischen Möglichkeiten sind im Laufe der Jahre ein wenig erweitert worden, ein zwei Effekte dazu gekommen, aber wirklich neue Spielarten höre ich nirgendwo.

    Selbst, wenn es welche gäbe, hätten sie in der multikulturellen Mediengesellschaft keine Chance mehr, sich zu einem Stil auszuweiten. Das ging nur bis in die 60er Jahre.

    Das hat alles nichts mit gut oder schlecht zu tun, sondern mit der Geschwindigkeit der Medien und des kulturellen Austauschs.

    Ich selbst stecke in dem Dilemma, mit dem Instrument recht und schlecht die Licks der abertausend Jazzer vor mir zu spielen, nicht mehr groß überraschen, fordern, erweitern, betören und zerstören zu können.

    In gewisser Weise ist das Saxophon und ist auch der Jazz ausgereizt.
     
  18. Gast_13

    Gast_13 Guest


    http://www.c2-beratung.de/leistungen/produkt.php4?id=26

    Die Beratungsgesellschaft nennt sich C2. Oben ist der Link zur Seite (die üblichen Linkereien scheinen heute nicht zu funktionieren)

    @ Dreas: Markwirtschaft ist ja per se weder demokratisch noch undemokratisch. Aber der Erfolg der z. B. chinesischen Volkswirtschaft weckt schon beim einen oder anderen Begehrlichkeiten.

    Ansonsten verweise ich auf die Strömungen des Neoliberalismus, Friedrich von Hayeck, z. b. verknappung von Arbeit zur Verbilligung, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft usw.

    Ohne dir nahetreten zu wollen: Hast Du Dir schonmal überlegt, ob es vielleicht einen Zusammenhang geben könnte, zwischen deinem Weltbild / Politikverständnis und deiner Einstellung / Verständnis von Jazz?



     
  19. Gelöschtes Mitglied 5328

    Gelöschtes Mitglied 5328 Guest

    @ Nummer 13

    Klar gibt es den. Ich bin ja keine gespaltene Persönlichkeit.
    Mein Meinungsbildungsprozess, meine Einstellungen bilden sich
    ganz selbstverständlich aus meiner Sicht der Dinge, der Welt.

    Und natürlich kann man eine andere Weltsicht haben. Da gibt es m. E. kein falsch oder richtig.

    Ich denke das ist bei jedem anderen auch so.

    LG

    Dreas
     
  20. jaaz47

    jaaz47 Ist fast schon zuhause hier

    @pue schieb:

    'Der Jazz hat die Fähigkeit, stilbildend zu sein, verloren.'

    das kann ich so nicht stehenlassen.
    ich habe irgendwo weiter vorne schon mal darauf hingewiesen; der jazz ist wie ein grosser fluss, der sich mal langsam, mal schneller bewegt. aber er hat sich immer bewegt und wird sich immer weiter bewegen!

    wie und welche richtung er in den kommenden jahren erlebt, kann ich nicht beurteilen.
    zum einen hat sich die musik im lauf der vergangenen 20 jahre, durch die veränderung in den medien, extrem rasant verändert und zum anderen hat sich der jazz unheimlich weit geöffnet.
    ich sehe die 'stilbildende fähigkeit' des jazz weiter in seiner offenheit, in seiner neugier auf neues.

    wenn ich den satz von pue nochmal aufgreife, dann nur aus dem grund, das ich die gefahr eher darin sehe, dass es heute musiker gibt, die jazz studiert haben.
    ich weiss nicht, was man am jazz studieren kann?
    das ist wie mit dem blues, entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht.

    jaaz47 :pint:
     
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