Wie denkt Ihr Akkord-Töne, die enharmonisch leicht verwechselbar sind?

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Raggae, 26.November.2011.

  1. clari_sax

    clari_sax Ist fast schon zuhause hier

    Das erinnert mich an Eddie Condons sehr interessante Autobiografie "We called it music" in der u. a. er von einem Musiker des Chicago-Jazz - also dem weißen Jazz der 20er Jahre - erzählt, der sich auf eine ähnliche Frage eines interessierten Zuhörers hin verwirrt zu Eddie umdrehte und sinngemäß sagte: "So wie er es ausdrückt klingt es, als ob ich etwas Unanständiges tue!"

    Was ich damit sagen will - Akkorde denken funktioniert beim Improvisieren nicht! Man mussAkkorde samt ihren Verbindungen natürlich unbedingt lernen und üben, um eine gut gefüllte Werkzeugkiste zur Verfügung zu haben, aber das war's dann auch schon!

    Improvisieren als Kunst aber ist etwas völig anderes als Rohrleitungen verlegen, bei dem man sich an einem stereotypen Handlungsmuster orientieren kann. Das wünschen sich allerdings viele, und genau das höre ich deswegen heute immer ständig - nichts als Stereotype, aber wenig Musik.

    Armstrong dagegen blies Noten, die waren z. T. völlig falsch - aber sie machten ihn zum wahrscheinlich größten Musiker des vorigen Jahrhunderts.

    Zusammengefasst heißt das: Improvisieren ist eben viel, viel mehr als das schematische Abspulen von Skalen oder das "Denken" von Tönen ...

    Just my 2 cent.
    LG - Chris
     
  2. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Hallo!

    Naja, ich betrachte das so:
    Akkorde und deren Verbindungen sagen mir etwas darüber aus, ob ein Ton eine große Spannung erzeugt ('falsche Töne') oder eine kleine ('langweilige Töne'). Wenn ich einen G7 habe, dann ist die Quine D spannungsarm, aber die große Septime Fis, die sich mit dem F reibt, halt schon hart. Kommt aber - wie bei Schweinefleisch und alten Autoreifen - darauf an, was ich damit mache. Und das muss ich erstmal klar haben - sei es durch Kopf oder Bauch.

    Ich versuche halt sowohl vertikal (in welchem Akkordumfeld bewege ich mich) und vertikal (Skalen, Verbindungen) zu denken.


    Von daher bin ich für "Akkorde funktionieren, aber nicht zwangsläufig ausschließlich".

    Grüße Roland


     
  3. Raggae

    Raggae Ist fast schon zuhause hier

    Finde ich auch. Es gibt ja den schönen Spruch, nach dem Genie zu 99% Transpiration ist und zu 1% Inspiration. Ich bin gerade noch dabei, mir meine Werkzeugkiste zu füllen. Wenn an der einen oder anderen Stelle dabei schon mal ein bisschen Kunst rausspringt, bin ich schon glücklich.

    In der Kunst und damit auch beim Improvisieren ist ja aber auch vieles stereotyp, nur auf eine kreativere Art. :)
     
  4. rbur

    rbur Mod

    Ich habe bei diversen Handwerken schon viele kreative Einfälle erlebt, die weit über das hinaus gingen, was der Komponist ( = Architekt) vorgesehen hatte :evil:
     
  5. Raggae

    Raggae Ist fast schon zuhause hier

    Ist ja auch kein Wunder. Die hatten wahrscheinlich den gut gefüllten Werkzeugkasten, den Chris beschrieben hat, wobei er damit ja glaube ich auch das Wissen verbindet, wie man die Werkzeuge einsetzt. Also sozusagen ein Werkzeugkasten, in den nur Werkzeuge reinkommen, die man auch wirklich verwenden kann.

    Deshalb ist mir die Sache mit dem Denken wichtig. Falsches Denken oder eine unzweckmäßige Konzeptualisierung (was immer das in diesem Zusammenhang auch heißen mag) kann ja oft verhindern, dass eigentlich sehr passende und auch vorhandene Werkzeuge an einer gut geeigneten Stelle zum Einsatz kommen.
     
  6. Otfried

    Otfried Gehört zum Inventar

    Moin Raggae,

    wenn ich nach Noten spiele interessiert mich der harmonische Zusammenhang erst mal nicht sonderlich, die Übersichtlichkeit der Noten ist mir da viel wichtiger. Allerdings sind Noten dann meistens auch am übersichtlichsten, wenn sich ihre Notation am harmonischen Zusammenhang orientiert.

    Übe ich Akkorde, so versuche ich diese nicht als # oder b zu denken, sondern als Griff auf dem Saxophon zu spüren. Denn beim Improvisieren versuche ich möglichst, mein Hirn auszuschalten, und mich der Musik hinzugeben.

    Allerdings ich gebe gerne zu, das Ausspielen komplexerer changes war noch nie meine Stärke, und wird es wohl in diesem Leben auch nicht mehr.

    Gruß,
    xcielo
     
  7. flar

    flar Guest

    Moin, moin liebe mit Saxophonisten
    das wichtigste zu erst. In meinen Beiträgen weiter oben schreibe ich immer von Sebtime. die es natürlich gar nicht gibt, es muß Septime (mit P) heißen. Mein armer alter Deutschlehrer dreht sich im Grabe um.
    Hallo Roland
    vielen Dank für den Link und die Titelangaben zu Debussy und Ravel. Ich hab in die verlinkte Seite kurz rein geguckt und bin echt begeistert!
    Im Bezug auf meinen Text weiter oben gebe ich Dir recht, der ist schon sehr leicht falsch zu verstehen. War halt ein bisschen schnell aus der Hüfte geschossen und absolut vermeidbar, wie gesagt, den hätte ich besser gar nicht abschicken sollen.
    So jetzt werde ich mich mal in die Debussy Seite vertiefen,
    bis dann Euer Flar

    P.S. Um meinen Lehrer braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen, ich habe mit Sicherheit auch in diesen Text ausreichend Fehler eingebaut, der kommt schon wieder in eine bequeme Rückenlage.
     
  8. Rick

    Rick Experte

    Sehr interessant, das Thema Debussy im Zusamnmenhang mit Blues - just diese Verbindung haben schon einmal zwei berühmte Musiker in den 1950ern gefunden, was sie zu einer neuen Improvisations- und Kompositionsrichtung sowie zu einem wegweisenden Meilenstein der Jazzgeschichte inspirierte:
    Pianist Bill Evans und Trompeter Miles Davis.

    Evans hatte eine klassische Ausbildung genossen und war großer Fan der französischen Impressionisten Debussy und Ravel.
    Er machte Miles Davis darauf aufmerksam, wie da einfach Akkorde und Tonleitern durch Rückungen verbunden und so eigenartige neue Klänge geschaffen wurden. Sie entdeckten Parallelen zum Blues und dessen "merkwürdigen", "unlogischen" Akkordverbindungen.

    Bis dato war man in der Musikwissenschaft noch ganz rassistisch davon ausgegangen, "der Neger" sei halt ein bildungsresistenter Gefühlsmensch und deshalb nicht in der Lage, die harmonischen "Naturgesetze" (der europäischen Klassik) richtig zu verstehen - also konnte "der Neger" nur so einen musikalischen Quatsch wie den Blues erschaffen.
    Erst durch das Zusammentreffen mit "dem Weißen" und seiner überlegenen Kultur entstand dann eine anspruchsvollere Musik wie der Jazz. :-o

    (Solche Statements liest man teilweise noch heute in irgendwelchen durchgeknallten Schulbüchern!)

    Als nun Evans und Davis entdeckten, dass selbst angesehene französische Komponisten auf die "harmonischen Naturgesetze" pfiffen, war das der Startschuss für die Aufwertung des Blues weg vom "ungelenken Gejammer" hin zur anerkannten Kunstform - und daraus resultierend für einen Umbruch von Komposition und Improvisation, den "modalen Jazz".

    Die Schallplatte, die unter dem Eindruck dieser neuen Erkenntnisse 1959 entstand, ist bis heute ein Bestseller: "Kind of Blue".

    Sie enthält ausschließlich Stücke, die NICHT funktionsharmonisch komponiert wurden, sondern die auf Rückungen von Akkorden sowie dem Wechsel von Tonleitern ("modes") beruhen - wie im Blues und wie bei Debussy. ;-)


    Schöne Grüße,
    Rick
     
  9. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Hallo!

    Bei mir war's umgekehrt: ich bin durch Debussy und Ravel zum Jazz gekommen; ich komme ja vom klassischen Klavier.

    Nur musste ich damals, als ich jung war, LPS (das sind diese zweiseitigen Datenträger mit mechanischer Abtastung) aus der Stadtbücherei leihen ... heute geht das mit ein paar Klicks bei YouTube. :)

    Was solls, heute ist die gute alte Zeit von morgen! (Karl Vaentin)

    Grüße
    Roland
     
  10. flar

    flar Guest

    Hallo Rick
    Du hast geschrieben „just diese Verbindung haben schon einmal zwei berühmte Musiker in den 1950ern gefunden“. Ich denke das ich Dir, auch im Namen von Roland, danken darf, das Du uns mit dieser Aussage quasi zu zwei berühmten Musikern in den 2010ern gemacht hast.

    Hier mußt Du Dir den „ich lach mich kaputt“ Smilie vorstellen.

    Ich habe vor langer Zeit die Autobiographie von Miles Davis gelesen (in der er es zugegebenermaßen mit Details nicht sehr genau nimmt) und meine mich zu erinnern das ihn Gil Evans zum ersten mal eine Skala für das Solo in Summertime notiert hat. Aber da kann ich mich auch täuschen.
    Du solltest Dir aber unbedingt mal auf der Debussy Seite das mit den Quartschichtungen angucken. Das erinnert mich sehr die diese kleinen,ich weiß nicht wie man das nennt, Einwürfe oder angedeutet Akkorde die Miles in den 80ern auf seinem Keyboard spielte. Das sind fast immer im Quart Abstand gespielte zweistimmige Tonfolgen, die genau wie bei Debussy offensichtlich keine harmonische Funktion haben. Es ist aber auch sehr schwer heraus zu hören über welchen Akkord gespielt wird. Als Beispiel fällt mir im Moment nur eine Liveversion von Jean Pierre ein die ich mal aus dem Radio aufgenommen habe und leider nicht mehr besitze. Ich habe damals als durchlaufenden Grundakkord A7 raus gehört. Das Herr Davis diese Einwürfe selber spielt und nicht sein Keyboarder ist mir erst vor kurzen auf youtube auf gefallen.

    Frage an alle!
    Wo finde ich als bekennender Computerblödmann die Gebrauchsanweisung für die Zitate und die Simlies
    Vielen Dank im vor raus Euer Flar
     
  11. Rick

    Rick Experte

    Nun wird's aber auch Zeit für Eure gemeinsame Plattenproduktion alla "Kind Of Blue"! :-D

    Das ist durchaus möglich - auch Gil Evans war zu dieser Zeit von den neuen Klang-Möglichkeiten fasziniert, die sich durch die modale Auffassung ergaben.

    Diese ging übrigens ganz ursprünglich auf den Komponisten, Pianisten und Theoretiker George Russell zurück - aber er gab nur den Anstoß, auf Debussy kamen dann Gil und Bill Evans auch wieder mehr oder weniger von selbst.

    Die von Dir angesprochene Aufnahme von "Summertime" fand übrigens ein Jahr früher statt als die Produktion von "Kind Of Blue", man könnte sie als eine Art Vorbereitung oder einen Vorboten ansehen.

    Ja, diese Quart-Voicings bei modalem Jazz kamen dann in den 1960ern groß in Mode, besonders beliebt bei den Pianisten Herbie Hancock und McCoy Tyner.
    Und der Jazz-Rock der 70er wäre ohne fast nicht denkbar, besonders typisch auch bei den Brecker Brothers. :cool:

    Hm, Gebrauchsanweisung? :roll:

    Das alles beruht auf Codes - für Zitate schreibst Du "quote" am Anfang und Schluss in eckige Klammern (erreichbar per 8 und 9 auf der Tastatur mit gleichzeitigem Drücken von "AltGr"), am Schluss mit einem "Slash" davor: /quote

    Die Smilies kann man beispielsweise direkt über die Liste über dem Eingabefenster einfügen, klick da oben einfach mal auf den gelben Smilie-Knopf. ;-)


    Schöne Grüße,
    Rick
     
  12. flar

    flar Guest

    Rick schrieb
    Oh man das mit den Zitaten klappt schon mal

    Rick schrieb
    Da werde ich mal meinen berühmten Kollegen fragen müßen ob er Zeit für eine Produktion von Weltrang hat oder ob gerade mit etwas wichtigeren beschäftigt ist, so berühmte Musiker haben ja immer viel zu tun. :lol:

    Rick, Du bist ein Genie, das klappt ja auch:danke:

    Vielen Dank für Deine Mühe und viele Grüße Flar
     
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