Saxophonunterricht ohne Harmonielehre?

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von hanssax, 18.Oktober.2015.

  1. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Hallo an die Experten,

    ich hab' da mal eine Zwischenfrage: Warum empfinden wir einen Ton als Leitton, wenn er im Halbtonabstand unter dem Ziel steht?

    LG Helmut
     
  2. Rick

    Rick Experte

    Hallo @bluefrog,

    meiner Ansicht nach ist das nichts als kulturelle Prägung.
    Kleine Kinder empfinden das nicht von selbst so, sie bekommen das nur in tausend Kinderliedern "eingepaukt".

    In orientalischer Musik wird sogar auf Halbtönen "herumgeritten", ohne dass sie irgendeine Leittonfunktion hätten. Ist irgendwie so ein europäisches Ding. :rolleyes:

    Schönen Gruß,
    Rick
     
    bluefrog und last gefällt das.
  3. ppue

    ppue Mod Experte

    @Rick. Die Bezeichnung Tetrachord hat mir nie etwas eingebracht. Tetrachord ist ein Ausschnitt von vier Tönen aus einer diatonischen Leiter im Rahmen einer Quarte. Das sagt mir nichts über die Möglichkeiten ihres harmonischen Potentials. Man braucht hier und da die Bezeichnung Tetrachorde zur Erklärung der Durleitern. Eher ein pädagogisches Hilfsmittel.

    Unsere diatonischen Leitern entstehen durch eine Kette zusammenhängender Quinten. Nimmt man fünf davon, dann führt das zur Pentatonik. Die hat noch zwei "Löcher", die es zu stopfen gilt und die eben nicht symmetrisch verteilt sind. Warum wir diese eine Variante wählten, lässt sich nur mittels der Harmonien erklären.
    Ausgehend von der Pentatonik füllt der Bluesspieler die Löcher anders:

    C D Eb F G A Bb C

    und spielt in unseren Ohren Dorisch. Nach deiner Definition genau so symmetrisch wie auch die phrygische Leiter. Die Symmetrie alleine erklärt somit nicht unsere Dur-Vorliebe.

    Symmetrische Tetrachorde (nicht im klassischen Sinne) wären solche in einer HTGT-Leiter:

    C C# D# E -
    F# G A Bb -

    Spiegel- sowie klappsymmetrisch geht es nicht besser. Das wäre dann ein Grund, auch harmonisch mit dem Material besser umgehen zu können.

    Sorry, ist dir vielleicht zu kleinkariert,

    nichts für ungut, Peter
     
  4. saxhornet

    saxhornet Experte

    Man darf auch nicht vergessen, wie damals in der Kirchenmusik, wo viel von der musikalischen Entwicklung im europäischen Raum über eine gewisse Zeit passiert ist, über den Tritonus gedacht wurde. Der Tritonus galt als Intervall des Teufels und in ionisch ist das Intervall weniger klanglich deutlich ausgeprägt als bei lydisch. Es kommen vermutlich immer viele Punkte zusammen, die als Grund für eine bestimmte Entwicklung herhalten können.

    Lg Saxhornet
     
  5. saxhornet

    saxhornet Experte

    Da orientalische Musik oft anders geprägt ist und gerne auch mit Vierteltönen gearbeitet wird, funktioniert da unser System eh nur begrenzt.

    LG Saxhornet
     
  6. Rick

    Rick Experte

    Nun, die Frage war aufgekommen, wie und warum wir nicht die lydische Tonleiter vorziehen, da die ja durch die Quintenfolge viel besser erklärt werden kann.
    Ich habe die Frage historisch aufgefasst und deshalb auf die antike Betrachtung der Tetrachorde verwiesen. Bekanntlich war einer der Väter unserer Musik der griechische Gelehrte Pythagoras, der sowohl in der Mathematik und Astronomie als auch in der Musik auf der Suche nach "göttlicher Harmonie" war.

    Dass alles auch anders betrachtet werden kann und dann vielleicht sogar noch harmonisch schlüssiger erscheint, ist ja klar, aber deshalb muss man doch nicht die Geschichte umschreiben! ;)

    Wie kommst Du jetzt darauf?
    Ich habe gemäß meines Wissenstands geantwortet und wollte nur zur Klärung beitragen, aber beileibe niemandem etwas aufdrücken oder gar jemanden herabsetzen.
     
  7. ppue

    ppue Mod Experte

    Nein, hast du auch nicht und empfand ich auch nicht so.

    Aber ich muss dir leider dennoch widersprechen. Der Begriff Tetrachord stammt zwar von den alten Griechen. Er wurde im Mittelalter von den Musiktheoretikern übernommen (und dabei noch falsch interpretiert). Ist somit das gleiche Spiel mit den Kirchentonleitern, die nun auch noch für den Jazz herhalten müssen.

    Doch zuerst war die Musik und nicht die Theorie (hab ich das nicht gerade bei dir gelesen?). Die Übernahme des Begriffs Tetrachord für vier Töne aus einer diatonischen Leiter bedeutet nicht, dass sich die Musik über Tetrachorde tradiert hat. Die Quintverwandtschaft ist die Grundlage für unsere Leitern. Die Tetrachorde sind ein Produkt dieser Leitern und nicht umgekehrt.

    @saxhornet : Vierteltöne, ja, spannend. Wo ich vorhin bei der Pentatonik und ihren Löchern war. Die persische Schur-Tonleiter füllt die Löcher mit der Hälfte der kleinen Terz auf:

    G Ap Bb C Dp Eb F G

    G_Bb C_Eb F G die Pentatonik und

    Ap und Dp, die um circa einen Viertelton vermindert sind. G-Ap ist ein Dreiviertelton und Ap-Bb auch. Entsprechend beim anderen Loch zwischen C und Eb.

    Die Macht der Quinte als grundlegende Strukturgeberin aber ist in allen Kulturen zu hören.
     
  8. ppue

    ppue Mod Experte

    Weil ich gerade im Floh bin, stelle ich mal die dorische Tonleiter vor:

    Die Tetrachorde bei den Griechen dafür waren zwei identische:

    1-1-1/2

    dann ein Ganzton, (Griechisch: Diázeuxis) der unsinniger Weise bei allen Betrachtungen heraus fällt (wie heute noch) und dann

    1-1-1/2.

    Jo, jetzt sacht ihr, das ist doch Dur. Richtig!

    Aber weit gefehlt, denn die Leiter, die dazu gehört ist folgende:

    e-d-c-h_a-g-f-e

    Huch, die geht nach unten. Ein umgekehrtes Dur! Und genau wie unser Dur mit Leittönen, die ich gar nicht als Modeerscheinung und Gewöhnungssache sehe. Ist halt 'ne kleine Stufe und wie bei einer Treppe (oder Leiter) ist dieser Schritt weniger anstrengend, geschmeidiger. Hier leiten sie eben nach unten, denn so waren die Melodien von damals gedacht und gesungen.

    Zurück zum Dorisch. Die Leiter will also von oben gedacht sein. Das ist etwas ganz anderes als unsere Leiter, die nach oben und aufstrebend gedacht ist. Davon abgesehen wäre sie, umgekehrt gedacht, doch eher phrygisch oder, je nachdem, wie man sie benutzt, doch eher hypoäolisch?

    Ja, hier geht einiges durcheinander. Mit der immer gleichen Nomenklatur werden völlig verschieden aufzufassende musikalische Systeme beschrieben. Das ist nicht die Schuld der Musiker, sondern der Theoretiker und hat mit Musikgeschichte nichts zu tun. Eher mit Übersetzungsfehlern, falsch verstandener Pädagogik, der Faulheit, neue Wörter und geeignetere Erklärungsmodelle zu finden oder der Wichtigtuerei, mit man solch besonders gescheite Begriffe verwendet.

    Ja, ich gebe zu, ich komme in Rage und manchmal will ich das auch.
     
  9. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    @ppue:
    Sehr interessant, deine Ausführungen! Ich habe aber nicht verstanden, woher die Idee kommt, die Tonleitern nach unten zu denken. Könntest du die Motivation dazu nochmal herausstellen? Oder ist das einfach mal aus Prinzip dem gängigen Aufbau nach oben entgegen gestellt?
     
  10. ppue

    ppue Mod Experte

    Äh, das waren die alten Griechen. Die werden sich kaum die Gegenwart als Vorbild genommen haben.

    Woher kommt die Idee, Leitern nach oben zu denken?

    Ich weiß es nicht. Könnte mir mal Gedanken dazu machen. Warum die Griechen nach unten dachten, wird aber wohl nicht mehr in Erfahrung zu bringen sein.

    Meine Vermutung ist, dass sie die Melodie als nach unten leitend, zur Entspannung führend gedacht haben. Musik aus dieser Zeit ist wohl nicht überliefert und so wird das eine Vermutung bleiben.

    Über die Zeit unserer beginnenden Mehrstimmigkeit kann man eher spekulieren. Es war gewiss keine Zeit der Kontemplation, sondern eine, in der man Monumente, Burgen und Schlösser baute und dem einen Herrscher diente. Ihn zu lobpreisen eignet sich das Emporstrebende mehr als die meditative demütige und in sich gekehrte Kirchenmusik, die Ionisch, so weit ich es weiß, kaum gebrauchte. Dur ist damit vielleicht eher eine Leiter der Eitelkeit und gewiss keine der inneren Einkehr.

    Dass man Musik ganz anders denken kann, lernte ich von den Melanesiern auf ihren Panflöten. Die sind übrigens equiheptatonisch gestimmt. Man teilt die Oktave in sieben gleichweite Schritte (-:

    Der eine hat auf seiner Flöte die Töne 1 3 5 7 und der andere 2 4 6 8.

    Die Musik ist von oben nach unten gedacht und noch auffälliger: von schnell nach langsam.

     
  11. chrisdos

    chrisdos Strebt nach Höherem

    Falls jemand nicht mehr ganz mitkommt.

     
  12. Roland

    Roland Strebt nach Höherem

    Richtig!

    Genau wie Dur, Moll, Akkorde, 4/4 und 3/4 (statt 7/8 oder 11/8 oder dauernde Taktwechsel, da ist der Zwiefache (Hintergrundmusik bei Pumuckl!) der Exot) , auf-eins-und-drei-Klatschen, zwölf Töne pro Oktave, Unterteilungen in Takten mit Vielfachen von Zweierpotenzen (da ist der Blues mit seinen 3 mal 4 Takten ja schon der 'Exot'), bevorzugter Klang und Klangästhetik und die Tatsache, mit welchem Geschlecht man welches Instrument man spielen darf. (Früher war es z.B. für 'höhere Töchter' unmöglich, ein Blasinstrument zu spielen, das ist unschicklich!)

    Deswegen halte ich für das Klavierspielen Bartoks 'Mikrokosmos' so wichtig: Es werden ständig Regeln gebrochen, mit denen wir unbewusst aufwachsen und werden damit zu Tage gefördert, auf das wir darüber reflektieren können.

    Grüße
    Roland
     
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  13. last

    last Guest

    Super! Jetzt versteh`auch es auch!!!! :woot:
    ;) lastvisitor
     
  14. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Wenn Musik immer erstmal oder "früher" gesungene Musik ist/war, dann ging/geht sie vorwiegend abwärts. Fieldholler, Worksongs, Jodler, Blues, sogar Bebop-Scales. Luft holen und stark (also oben) anfangen - nicht nur Sänger - jeder improvisierende Trompeter macht es so.

    Gerrit
     
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  15. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    Bin bei Rick und seiner Symmetrie: zwei Viertonfolgen, die beide mit einem Leitton schließen. Der erste Leitton geht vom Grundton zur Subdominante, der zweite von der Dominate zur Tonika. In allen Skalen unserer Ordnung ist es das schlüssigste und eingängstige Modell und hat sich deshalb durchgesetzt.
     
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  16. chrisdos

    chrisdos Strebt nach Höherem

    Eine Symmetrie ist das ja nicht. Nur eine Teilung der Oktave in 2 gleiche Tonfolgen/Intervallmuster. Die "Schönheit der Symmetrie" gilt in unserer Musik ja generell nicht sofern damit Konsonanz gemeint ist, sondern sie beinhaltet die meisten Dissonanzen.

    Die halbe Oktave: der Tritonus

    Die Dreiteilung: der übermäßige Dreiklang

    Die Vierteilung: der verminderte Vierklang

    Die Sechsteilung: die Ganztonleiter

    Und schließlich die Chromatik.

    Würde man unseren "Dur"-Tetrachord spiegeln, bekäme man eine Mixo b13 Leiter.

    Die einzige symmetrische Leiter, die als wohlklingend durchginge ist die dorische, die Spiegelung eines "Moll"-Tetrachordes.

    Vielleicht aber haben wir die Schönheit der Symmetrie noch nicht erhört, weil wir noch kulturelle Amöben sind.....:)
     
  17. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich sehe keine Symmetrien. Konsonanz beruht darauf, dass Töne in einfachem Frequenzverhältnis zueinander stehen, bzw. möglichst viele Obertöne gemeinsam haben.

    Das ist eine Art Ähnlichkeit, aber keine Symmetrie.
    Dass man in diatonischen Leitern sich ähnelnde oder gleiche Sequenzen findet, liegt auf der Hand. Es gibt ja ausschließlich nur Halb- und Ganztonschritte. Was zwei sich gleichende Tetrachorde Besonderes in harmonischer Sicht zu bieten haben, hat sich mir noch nicht erschlossen. Oder auch, warum das besonders nett sein soll?
     
  18. JazzPlayer

    JazzPlayer Ist fast schon zuhause hier

    @ppue: Danke für den Hinweis auf die Griechen. Bei der Ursache für das Aufstrebende "unserer" Musik würde ich aber weniger weltliche Herrscher als ursächlich sehen, sondern die christliche Vorstellung vom Himmel, der - wen überhaupt geographisch verortbar - oben liegt. Deshalb war ja auch der Turmbau zu Babel so sträflich, weil sich Menschen ins Göttliche emporheben wollten.
    Das ist zumindest das, was bei mir aus dem Schulunterricht, Kapitel Kirchenmusik, hängengeblieben ist.
     
  19. ppue

    ppue Mod Experte

    Ich empfinde die gregorianischen Gesänge nicht als aufstrebend. Eher dunkel und devot. Trotzdem ist sicher für uns das Große immer erhaben und oben, da hast du Recht.

    Die Hopi-Indianer bauten ihre "Kirchen" in die Erde und der heiligste Platz lag am tiefsten. Ein ganz andere Orientierung. Die Musik amerikanischer Ureinwohner ist für mich genau so erdig. Es sind mitunter die traurigsten Gesänge, die ich kenne.
     
  20. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ja, das mit der Symmetrie in dur erschließt sich mir auch nicht ganz logisch und klingt eher artifiziell hineingedeutet. Die Deutung wird zu seiner Zeit schon seinen Zweck erfüllt haben, das glaub ich sofort.
    Aber wenn ich mir die C-Dur-Tonleiter auf dem Klavier anschau, dann sieht auch ein Blinder, dass sie nicht symmetrisch gebaut ist. Die Deutung vom doppelten Tetrachord ist ja nur möglich, wenn ich den Ganzton zwischen F und G unter den Tisch fallen lasse (nachdem ich bei G neu anfange zu zählen) und dafür C dann doppelt nehme...
     
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