Was übt ihr gerade?

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von Kristina Bossanova, 29.April.2020.

  1. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Ich kann mit den Begriffen was anfangen. Verstehe also grundsätzlich worum es da geht. Wobei "verstehen" eher die lexikalisch technische Seite betrifft. Ich "weiß" was äolisch ist, oder lydisch, ich kann auch mit den Stufenangaben etwas anfangen und zur Not auch Akkorde anhand ihrer Bezeichnung in Notenschrift übersetzen. Ich traue mir zu, einen Großteil der gängigen und ein paar weniger gängige Tonleitern herzuleiten. Was mir aber VÖLLIG fehlt, ist der tiefe SINN hinter all diesen Dingen.

    Ich kenne mich am Computer so leidlich gut aus, treffe aber immer wieder (oder eigentlich sehr häufig) auf Leute, die täglich die gleiche Routine machen, die gleichen Fenster und Dialoge klicken und so tun als könnten sie mit den Programmen umgehen. Aber wenn auch nur die allerkleinste Störung auftritt, wie eine unerwartete Zwischenfrage "Wollen Sie die Datei speichern?", sind sie hoffnungslos überfordert. Weil sie die Zusammenhänge der vielen Einzelteile die sie machen, nicht in ihrer Bedeutung verstanden haben. Sie führen eine mechanisch eingelernte, rituelle Handlung aus, von der sie gelernt haben, dass sie zum gewünschten Ergebnis führt.

    Mir geht es bei der Musik Theorie so. Die Einzelteile erkenne ich. Aber wenn man sie mir in einer anderen als der gewohnten Reihenfolge vorlegt oder abverlangt, dann wäre ich völlig hilflos. Und wenn ich hundertmal "lerne", auf A folgt B und dann X, weil Y wäre irgendwie unpassend, dann lerne ich wieder nur die Formel auswendig. Und nur wenig später wüsste ich nicht, ob es nicht "auf X folgt A und dann Y, weil B nicht passt" heißen müsste. Weil ich eben den Sinn nicht verinnerlicht habe. Genauso gut könnten das chinesische Zeichen sein, die in einer beliebigen Reihenfolge kombiniert jeweils auch keinen Sinn für mich ergeben.

    Entsprechend wenig nützlich empfinde ich das beim Spielen.

    Ich bin eben kein "Musiker" sondern ein "Mechaniker". Und darum mache ich beim Spielen auch "mechanische" Fehler, keine "musikalischen" und spiele problemlos in einem f-Dur Part beharrlich "fis", weil das in der vorigen Phrase in g-Dur auch dauernd gekommen ist. :( Ich höre dann schon, dass es falsch ist, aber meine Augen und Fingern sind immer noch mechanisch in der g-Dur und ich muss mich zwingen, auf die "jetzt kommt kein Fis" Platte zu wechseln. Und wenn ich meine Schablonen nicht schnell genug wechseln kann, kommt nur Kauderwelsch heraus der überhaupt nichts mit Musik zu tun hat. :-(
     
  2. bthebob

    bthebob Ist fast schon zuhause hier

    Hinweis: Foristin -Supersol- hatte am 20.5. ein Thread eröffnet zum Thema: Tonleiter lernen ....
    Da steht'ne Menge Interessantes drin.
    Ich bin bei diesem Thema immer sehr engagiert, weil ich aus "meinem früheren Leben"
    die vielen ??? wg. Musiktheorie und die Abneigung gegenüber dem Ganzen noch gut kenne.
    Aus eigener Erfahrung zwei Gedanken.
    1. Alle Tabellen, Texte, Grafiken und was es sonst noch gibt .... es sind letzendlich nur "Gedanken-Stützen", Spickzettel. Es geht um dein Spiel, und das wird im Laufe der Zeit mit diesem -Theoriekram- in jeder Hinsicht besser.
    Aber erst, wenn er mit dir -verschmolzen- ist, in deinem Flow verankert. Ohne Denken und Grübeln !!
    2. Die Methodik des Lernens muss zu dir passen. Der Teil der Theorie, mit der du dich beschäftigst,
    muss dich aus praktischen Gründen interessieren.
    Beispiel: Wer klassische Stücke spielt, braucht weniger die Bluestonleiter. (würde ich einfach mal behaupten)
    Wer Jazz spielt und mag, schon.
    Und wenn du mal die C-Blues Leiter aufgeschnappt hast und spielen kannst, na dann fragst du dich bestimmt irgendwann .... wie geht der Spass jetzt in Eb ? ... und wie heisst die Bluenote im Eb-Blues ?
    Ob du jetzt diese -Bluenote- theoretisch selber herleiten kannst
    oder einfach nachliest .... ist völlig schnuppe (Bln. für egal).
    Sie muss und wird (durch's Spielen, nicht durch's drüber reden und nachdenken) in deine Tonfolge einfließen.
    So, schon wieder zu viel geredet (werd' immer zum Missionar beim Thema: "Theorie und wozu der Schei...")
    VG
     
  3. Dragonsax

    Dragonsax Kann einfach nicht wegbleiben

    :-(
    Hi - na da hast Du mir schon Einiges voraus, wenn Du die Bausteine verstehst - aber genau diese Aussage " ich seh den tieferen Sinn dahinter nicht" - kann ich voll und ganz unterstreichen.
    Daher ist mein Geist auch blockiert, wenn ich diese Sachen lese. :confused:
    Deshalb habe ich ja auch um Erleuchtung gebeten, wie mich das in der Praxis weiterbringen kann.:)
     
  4. Dragonsax

    Dragonsax Kann einfach nicht wegbleiben

    Ja - exakt so habe ich mir das auch gedacht, danke für Dein statement. :)Auf mich bezogen, interessiert mich eigentlich nur die angesprochen Bluesvariante, da ich da neben Rock/Funk - Songs die meisten Ambitionen habe. Das theoretische Wissen, das für Musikstudenten und Jazzer vorgesehen ist, brauche ich nicht und interessiert mich auch nicht wirklich.:rolleyes:
    Wie ich an anderer Stelle schon geschrieben habe, kann ich Jazz nicht viel abgewinnen, bzw. der Stil erreicht mich einfach musikalisch nicht.

    Greetz Dragon
     
  5. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Naja, "verstehen". Ich mach mal ein Beispiel:

    Die Modalen Tonleitern (Kirchentonleitern) haben seltsame Namen wie "Phrygisch" oder "Mixolydisch". Sie haben aber eine "natürliche Reihenfolge" die man aufschreiben oder auswendig lernen kann:

    Ionisch, Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch, Äolisch, Lokrisch

    Und das "Geheimnis" dabei ist, dass ich eine beliebige (Dur) Tonleiter nehmen kann - etwa C-Dur und die Tonleiter Töne beginnend von einem beliebigen dieser Töne auf und abspielen kann. Und je nachdem mit welchem Ton ich anfange (und ende), habe ich eine dieser "Kirchentonleitern". Nehme ich die C-Dur und spiele von c bis c', dann ist das "C-Ionisch". Spiele ich die gleichen Noten von d bis d', dann ist das "D-Dorisch". Spiele ich von f bis f' dann ist das "f-Lydisch", von a bis a' eben "a-Äolisch" (oder in anderer Bezeichnung 'A Äolisch Moll').

    Das technisch zu verstehen ist kein Hexenwerk. Bei mir setzt aber dann das Verständnis aus, wenn ich mir mühsam erarbeitet habe, dass die Anweisung "spiel einfach F-Lydisch" nichts anderes heißt, als dass ich den Tonbereich der normalen "C-Dur" Tonleiter benutzen soll. Warum zum Teufel soll mit das helfen, wenn ich statt "C-Dur" jetzt "F-Lydisch" sagen muss? :banghead: Mir ist doch egal was jemand als "Grund Ton" der Tonleiter festlegt. Es sind immer exakt die gleichen Töne. Ich habe sowieso Noten vor mir, oder eine Melodie nachzuspielen. Dass hier keine Vorzeichen angegeben sind sehe ich so auch. Der einzige Aha-Effekt ist bestenfalls, dass das Stück nicht mit einem C-Dur Akkord endet, sondern wahrscheinlich mit einem F-Dur Akkord - was mir aber mit einem monophonen Instrument ohnehin egal sein kann. Es endet auf dem Ton auf dem es endet. Für mich sind da alle gleich berechtigt und keiner irgendwie bevorzugt. :-?

    Muss ich also jetzt wirklich zu den 12 Dur Tonleitern noch zu 84 modalen Tonleitern die Töne aufzählen können? Und zu jeder dieser Tonleitern die Dreiklänge (drei bzw 5 Töne weiter in der Reihenfolge, beginnend mit dem x-ten Ton der besagten Leiter) auf den jeweiligen Stufen? Also auf Zuruf:

    Ges, B, Des / Fis, Ais, Cis?
    Also ein Ges-Dur / Fis Dur Akkord?
    :wtf:

    ... aber da die Duskussion ja heißt "was übt ihr gerade":

    Wir werden das Herbstkonzert und die Konzertwertung voraussichtlich spielen können. Beides diesmal in der Kirche mit dazu passenden Stücken. Von Beethovens "Tannhäuser - Einzug der Gäste", über Johan de Mejs "Downtown Divertimento" bis Ravells "Pavane". :woot:
     
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  6. Dreas

    Dreas Gehört zum Inventar

    Es klingt aber total anders, wenn Du mit dem Grundton F beginnst und die lydische Leiter spielst.
    Die Akkordtöne sind auch andere als von C gespielt.

    CzG

    Dreas
     
  7. bthebob

    bthebob Ist fast schon zuhause hier

    Ein Klavier, ein Klavier ..... hier hilft nur ein Klavier :)!
    @bebob99 ... du bist doch schon auf dem richtigen. Vergiss diese komischen Namen.
    Der Punkt ist, diese "Gruppe" der Tonleiter gehören zusammen, sind eine Art "Familie. Thats it !!
    Um beim Beispiel C-Dur zu bleiben.
    Ja, sind immer die gleichen Töne. Der zweite ist -D- und die Leiter hat exakt die gleichen Töne.
    Von D bis D und heisst jetzt D-dorisch.
    Ist plötzlich eine Moll Tonart. Das ist einfach und verrückt zu gleich.
    Gilt auch beim 6. Ton -A- (der 6. aus der C-Dur ! )
    Wieder von A bis A und wieder von der Klangfärbung eindeutig Moll.
    Sinn von "det Janze". Der Schei .... klingt gut zusammen. Am Klavier leichter nachzuvollziehen ...
    Mit der linken Hand greifst du den A - Moll Akkord (a c e) ...
    und mit der rechten hämmerst du über die C-Dur Tonleiter ...hoch und runter ...
    und alle freuen sich. Klingt spitze, nicht schräg.
    Wieso - weshalb - warum gibts das alles ?
    Ich würde laienhaft sagen: Damit unsere Musik (deine und meine)
    interessanter und abwechslungsreicher klingt.
    VG
     
  8. ppue

    ppue Experte

    Die blödeste Erfindung der ganzen Jazztheorie ist die Einführung der Kirchentonarten. Ich glaube, die Berklee-School hat das verbrochen. Seit Anfang des Jazz spielte man immer verschiedenste Skalen, immer bezogen auf das tonale Zentrum. Man nannte sie aber nicht nach den Kirchentonleitern und es funktionierte trotzdem.
     
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  9. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    @ppue: alte Diskussion, aber ich bin mit den Kirchentonleitern deshalb sofort im Bild, weil ich damit die Lage der Halbtöne assoziiere und darüber hinaus sofort eine Klangvorstellung im Ohr habe. Auch eine Formel wie z.B. HM5 von G-Moll setzt bei mir solches Klangmuster in Bewegung mit der kleinen Sekunde (b9) und dem darauf folgenden übermäßigen Tonschritt von Eb nach F#.

    @bebob99: das ist in der Tat Quatsch. Wenn C-Dur das tonale Zentrum ist, brauchst du nicht daraus F-Lydisch machen, selbst wenn es die gleichen Töne (mit verschiedenem Anfangston) sind. Wo das Konzept der Lydian Mode musikalisch eigenständig und sinnvoll wird, ist z.B. in dem Standardwerk von George Russell "The Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization" abzulesen. Russell zeigt, dass eine Folge von reinen Quinten sich, in eine Skala runtergebrochen, in einer Lydischen Tonleiter abbilden lässt: C-G-D-A-E-B-F# = C-D-E-F#-G-A-B= Lydian Mode. Mit anderen Worten: wenn ich von einem Grundton aus in reinen Quinten improvisiere, tue ich das letztlich in der Lydian Mode.
    Russell geht natürlich noch viel weiter, aber das hier auszuführen würde....zu weit führen.
     
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  10. ppue

    ppue Experte

    Das ist nun keine Eigenart der lydischen Leiter, sondern die ,aller Kirchentonleitern. Alle sind ausschließlich auf Quinten aufgebaut. Die Durleiter ebenfalls. Die hat allerdings noch mehr drauf als die lydische Leiter:

    Einzige quintgeschichtete Leiter, in der die mit dem Grundton quintverwandten Stufen Durdreiklänge bilden und,
    einzige quintgeschichtete Leiter, in der alle Intervalle aufwärts (C-D, C-E, C-F, ...) rein oder groß sind und alle Intervalle abwärts (C-H, C-A, C-G, ...) rein oder klein sind.
     
  11. GelöschtesMitglied1589

    GelöschtesMitglied1589 Guest

    @ppue: vielleicht war ich nicht klar genug. Reine Quinten, auf einem beliebigen Grundton sukzessiv aufsteigend, ergeben in diatonischer Ordnung IMMER und NUR eine lydische Tonleiter und keine andere Kirchentonleiter. Anderes Beispiel: Bb-F-C-G-D-A-E= Bb-C-D-E-F-G-A = Bb lydisch.
    Das Beispiel mit der C-Dur Tonleiter ist eine andere Baustelle, aber genauso faszinierend. Willkommen im Glasperlenspiel.
     
  12. Kristina Bossanova

    Kristina Bossanova Ist fast schon zuhause hier

    Musik hören kann so gut sein wie üben:





     
  13. Saxoryx

    Saxoryx Strebt nach Höherem

    Leider reicht das statt Üben nicht. Sonst wäre ich mittlerweile Profi. ;) Wäre schon praktisch, wenn das das Üben ersetzen könnte.
     
  14. Saxoryx

    Saxoryx Strebt nach Höherem

    Danke, danke, danke, für diese Aussage! Die Amis wollen immer angeben, wie schlau sie sind (weil sie so ungebildet sind durch ihr reaktionäres Schulsystem) und mit Kirche haben sie es ja sowieso morgens, mittags und abends und das ist das Ergebnis. Ob ich jetzt weiß, ob irgendetwas lydisch oder mixolydisch ist oder in China ein Sack Reis umfällt ... Wen interessiert das? Es kommt doch nicht auf die Bezeichnung an, sondern darauf, dass man spielen kann. Und das kann man, ohne dass man Noten oder Tonleitern oder Akkorde kennt genauso. Da muss man sich nur mal hier einige schwarze Musiker anhören. Die können keine Noten lesen, aber spielen phantastisch!

    Die habe ich mir zum Vorbild genommen, und seither läuft es wie Butter. Ich weiß zwar nicht, was ich spiele, aber ich bekomme nur noch Komplimente. Vorher war alles schief und krumm, weil ich jahrelang versucht habe, mir diesen ganzen Quatsch mit Tonleitern und Akkorden und lydisch und mixolydisch einzuhämmern. Hat mich nur am Spielen gehindert und daran, mich beim Improvisieren frei entfalten zu können. Jetzt spiele ich so wie meine schwarzen Kollegen hier (okay, ich lese Noten und ich spiele auch nach Noten), nur nach Gehör und musikalischem und rhythmischem Gefühl, und es läuft alles viel besser.
     
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  15. Saxoryx

    Saxoryx Strebt nach Höherem

    Und ohne die Kirchentonleitern wärst Du nicht sofort im Bild? Einfach vom Hören und von der Klangvorstellung her? Ich höre das auch und ich spiele auch so, aber ich könnte Dir nicht sagen, ob das jetzt eine kleine Sekunde ist oder übermäßig. (Ja, im Nachhinein, wenn ich es analysieren würde. Aber nicht, während ich spiele.) Ich weiß einfach aus meiner Erfahrung des Musikhörens über Jahrzehnte, wie das klingen muss, und das spiele ich. Dazu brauche ich nicht zu wissen, welche Tonleiter das ist oder welcher Tonabstand oder lydisch. Deshalb bin ich trotzdem im Bild, weil ich das einfach im Ohr habe. Theorie ist doch immer nur eine Krücke. Das Interessante und wirklich Wichtige ist die Praxis. Und wenn ich mich jahrelang damit beschäftige, mich mit Theorie am Spielen zu hindern, bringt das dann was? Durch Theorie lernt man gar nichts. Man kann sich vieles erklären, aber lernen tut man dadurch nichts. Das tut man nur durch Hören und Spielen.

    Wahrscheinlich ist das anders für Leute, die sehr auf Theorie stehen und sich alles theoretisch erklären müssen, aber Musik ist doch Gefühl, nicht Verstand. Wenn ich das alles toterkläre und totlerne mit Theorie, dann kann ich keinen Ton mehr spielen. Wenn ich nicht darüber nachdenke, geht das Spielen viel einfacher. Außer natürlich, man braucht die Theorie, um überhaupt spielen zu können (was ich komisch finde, aber jeder Mensch ist da wohl anders).

    Erinnert mich daran, dass mein Bruder mal meinte, er hätte sich die Stadtkarte angesehen, und jetzt wüsste er ganz automatisch, wo jede Straße wäre und in welche Richtung er gehen müsste. Wie bitte? Nur vom Gucken auf die Karte? Aber für ihn war das normal. Ich rufe die Karte auf und laufe dann Schritt für Schritt hinterher. Aber wenn ich sie nicht vor Augen hätte, wüsste ich nicht, wohin ich gehen sollte. Das sind so die zwei Extreme, glaube ich. Leute, die sehr auf Theorie stehen, wissen bestimmt auch immer, wo Norden, Süden, Osten und Westen ist. ;)
     
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  16. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Was soll DAS denn? Außer vielleicht einer krassen Demonstration der eigenen Bildungslücken und Vorurteile.

    Kirchentonarten stammen aus der Gesangstradition des Europäischen Mittelalters, nicht aus der (privaten und hoch angesehenen) Musikhochschule Berklee College.

    Auf den gesamten restlichen polemischen Unsinn mag ich jetzt nicht sachlich eingehen.

    LJS
     
  17. ppue

    ppue Experte

    Die Kirchentonleiternamen stammen aus dem alten Griechenland und sind zweimal vergewaltigt worden.

    Wie viele Völker wechselten die Griechen von der Pentatonik auf siebenstufige Leitern. Hier galt als zentrale Oktave die Skala e'–e, welche dorisch genannt wurde. Sie galt für das Singen und Musizieren als am besten geeignet. Sie besteht aus zwei gleich gebauten Tetrachorden mit der Struktur Ganzton–Ganzton–Halbton (1-1-½; e-d-c-h/a-g-f-e). Man merke, die Ganz- und Halbtonschritte wurden von oben nach unten gezählt. Nach unserem heutigen Verständnis wäre die Leiter eine phrygische. Dorisch wird das Tonmaterial, wenn wir die beiden Tetrachorde von unten herauf spielten: e f# g a h c d e.

    Im Mittelalter wurden die verschiedenen Modi nach den griechischen Namen benannt, allerdings, wie oben schon beschrieben, grob falsch oder zumindest auf den Kopf gestellt. Ausschlaggebend für die Zuweisung einer Melodie zu einem Modus waren nicht wie im heutigen Dur und Moll die Anordnung der Ganz- und Halbtonschritte, sondern der Zielton (Finalis), der Hauptton (Repercussa, Ténor), der Umfang (Ambitus) der Melodie und bestimmte melodische Wendungen. Die Modi waren keine Tonleitern im heutigen Sinne.
    Auch wenn sich die Tonsysteme ähnelten, so war die Auffassung von Melodie jeweils anders und auch die Bezeichnungen hatten nur wagen historischen Bezug.

    Die nächste Vergewaltigung der Begriffe findet dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Ganz sicher bin ich mir da nicht, wer den Mist verbockt hat, aber es waren meines Erachtens Lehrer vom Berklee College.

    Die Tonräume der mittelalterlichen Gesänge auf die Skalen der stufenharmonischen Strukturen zu stülpen, mag verlockend sein, ist aber widerum ein widriger Übertrag von Tonsystemen auf heute gbräuchliche Leitern.
    Seit Berklee imprivisiert man nun über "Alle meine Entchen" nicht mehr mit den Tönen, die zum tonalen Zentrum gehören entsprechend in Dur oder Moll, sondern man benutzt folgende Leitern: Ionisch, Lydisch, Ionisch, Lydisch, Ionisch, Mixolydisch, Ionisch, Mixolydisch, Ionisch.

    Und da das alles so intelligent klingt und Jazz Eingang in die Hochschulen gefunden hat, wird der restringierte Kot seit Jahrzehnten dort verbreitet und trifft dann im Betrieb der Musiklehrer auf die vollkommen überforderten Schüler, die fünf Jahre brauchen, um zu merken, dass sie eigentlich immer noch in C-Dur spielen, nur z.B. halt von e nach e', wie das auch die komplette klassische Musik über Jahrhunderte tat, ohne die alten Zöpfe zu gebrauchen.

    Sorry, ich schrub das schon viele Male ich weiß. Ich ärgere mich aber dermaßen über diese Unsitte, dass ich auch nicht müde werde, das weiterhin lauthals zu verkünden.


    @Saxoryx: Mir scheint, du hast dennoch etwas komplett misverstanden. Die Theorie erklärt die Musik, die Komponisten komponiert und Musiker gespielt haben. Sie war nir dazu da, dem Musiker Anweisungen zu geben. Das wurde schon damals von den Studenten falsch gemacht, die meinten, im strengen Kontrapunkt komponieren zu müssen.

    Ich kann also mittels Harmonielehre ein Stück analysieren. Das hilft mir, bestimmte Klangräume zu erschließen. Diese Klangräume kann ich einüben und habe daher später die Möglichkeit, sie aus dem Bauch heraus zu gebrauchen. Theorie ist also dem Musizieren vorgeschaltet, kann ungemein hilfreich sein, wenn man ein Stück vorbereiten will und darüber hinaus begreifen will, wie das Stück funktioniert, woraus es seine Spannung bezieht, wo es seinen Höhepunkt hat oder auf welcher Strecke es einen Ausflug ins Grüne unternimmt.
     
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  18. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Wie immer bei musikhistorischen und -theoretischen Themen hast Du viel mehr Hintergrund als ich.

    Den Mist verbockt hat aber ziemlich sicher ein gewisser Herr Davis, der mit der Filmmusik zu „Fahrstuhl zum Schafott“ eine der ersten modalen Aufnahmen abgeliefert hat. Ob er sich mit Kirchentonarten oder deren Namen belastet hat ist seiner Autobiografie nicht zu entnehmen. Sicher ist aber, dass das modale Kind einen (mehrere) Namen brauchte.
    Das mag dann ein Berklee Eierkopf verwissenschaftlicht haben. Wahrscheinlich während er gelangweilt eine Realbook-Seite auf korrekte Transkription geprüft hat (weswegen dieses Ding möglicherweise so viele Fehler hat).

    Allerdings sind wir beide uns überhaupt nicht uneinig. Ich hatte nur Deine (späteren) Ausführungen maximal verkürzt um den völligen Stuss der Aussage über „die Amis“ zu entlarven.
    Mir ist „C-Dur ab D“ auch eingängiger als „D-Dorisch“.

    LJS
     
  19. ppue

    ppue Experte

    Nein, modale Aufnahmen kann man ja durchaus noch mit den Modi des Mittelalters vergleichen. Somit gilt Davis für mich nicht als Erfinder der Kirchentonleitern auf diatonischen Stufen. Genau den Stuss hat er ja nicht gemacht.
     
  20. bebob99

    bebob99 Strebt nach Höherem

    Und diesen Gedankensprung kann ich offenbar nicht machen. Natürlich klingt es anders wenn ich eine "C-Dur Tonleiter" von c bis c' spiele als wenn ich sie von f bis f' spiele. Das ist doch aber total irrelevant. Ich spiele ja keine Tonleitern, sondern ein Stück. Und da ändern sich die Noten oder Töne überhaupt nicht, wenn ich statt "das Stück ist in f-Lydisch" ketzerisch behaupte "das Stück ist in C-Dur". Ganz exakt die selben Töne in exakt der selben Reihenfolge. Und wenn ich behaupte es wäre in A-Moll klingt es immer noch gleich und wird auch immer noch exakt so geschrieben.

    Und auch die Akkord Töne sind auf jeder Note identisch. Der Dreiklang auf "f" ist sowohl in C-Dur als auch in F-Lydisch "f-a-c", also ein F-Dur Akkord. Und so ist das bei allen anderen Tönen dieser Leitern auch. Das ist ja auch anders gar nicht möglich, so wie Dreiklänge defineirt sind, also auf den gewählten Grundton den dritten und fünften Ton in der Reihenfolge der verwendeten Leiter zu schichten. Der "Unterschied" ist rein künstlich, weil ich einmal behaupte, das ist der Dreiklang auf der vierten Stufe (in C-Dur) oder eben auf der ersten Stufe (in F-Lydisch).

    Ah... das "Tonale Zentrum". Das ist für mich ein Geist. Ich kann das natürlich in der Theorie nachlesen, aber nach fühlen kann ich es nicht. Was soll das sein? Ein Mittelwert der gespielten Noten? Eine Konvention über Anfangs und Schluss Akkord? Und der ganze Rest dazwischen?
     
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